Auf Zungen’s Spur

Ein Streifzug durch das „multifunktionale Organ-Ensemble“

Dr. Susanne Codoni, Allschwil

(veröffentlicht in der Ausgabe 4 |2020)
„Die Regierung der Zunge ist allezeit und mit Recht für eines der wichtigsten Stücke der Herrschaft über sich selbst gehalten worden.“

(Zedler 1 – S. 264)

„Die Zunge ist ein kleines Ding, aber sie richtet großen Schaden an.“

(Pestalozzi: Lienhard und Gertrud 1781–1787)

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Foto privat, Skulpturen Rundweg: Köpfe am Korber Kopf
Foto Codoni privat


„Zunge, Lateinisch ‚lingua‘. Griechisch [Gloossa], Französisch ‚Langue‘, ist bey denen Menschen das fleischichte und weichlichste Wesen, welches in der Höhle des Mundes den Zwischenraum des gantzen Bogens vom Kinnladen-Rande am unteren Kinnbacken, und der gantzen Reihe Zähnen in diesem Kinnbacken einnimmt, und sich noch weiter hinterwärts erstrecket; sonst aber durch seine Bewegung das Schlingen befördert, und ein Werckzeug sowohl des Geschmacks als der Sprache ist.“
1 -Zedler 1750, Sp 211)

Auf Zungen’s Spur – Abstract

Bilder, Sprichwörter, Aphorismen, Redensarten und Zitate rund um die Zunge und den Mundraum lassen erahnen, dass sie durch die Jahrhunderte hindurch viele Menschen beschäftigt haben. Schon früh wurde die Bedeutung, Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit dieses Organensembles erkannt und hat bis heute nichts an Aktualität und Faszination eingebüßt. Die Zunge und der Mundraum bewegen die Gemüter der verschiedenen Disziplinen rund um den Mund in hohem Maße. Die Komplexität und Funktionen monokausal zu betrachten, würde unweigerlich in eine Sackgasse führen.

Die Zunge und der Mundraum sind zunehmend multidisziplinärer Gegenstand der Forschung, Diagnostik, Therapie – attraktive Forschungsobjekte. Das ganzheitliche Verständnis für diesen Raum steht im Zentrum und ist von großer Bedeutung für Erfolge zum Wohl des Patienten in der klinischen Arbeit.

Mit den Augen einer Logopädin ist der Fokus gerichtet, „Auf Zungen’s Spur zu gehen“, „hinter die Zunge zu schauen“, zu suchen, aus der Geschichte heraus zu lernen, das heutige Verständnis des Mundraumes als polyfunktionales Organensemble zu erfassen und zu verstehen, um daraus Konsequenzen für die tägliche Arbeit abzuleiten.

Auf Zungen’s Spur – Die Zwiespältigkeit

Bethien beschreibt in ihrem Kapitel (2 – S. 77) „Zwiespältige Zungen – den Kampf um Lust und Macht im oralen Raum“ und nennt die vier für die Zunge relevanten anthropologischen Felder:

  • Sprache,
  • Gewalt,
  • Erotik,
  • Geschmack.

Diese sind verwoben „… in der anatomischen Verortung der Zunge und symbolischen Zone zwischen Selbst und Welt, Intimität und Öffentlichkeit“.

In der historischen Definition der „Zunge“ aus Zedlers Universallexikon wird die Ambivalenz dieses Organs spürbar: Die Zunge als einziger Körperteil des Menschen, welcher sowohl inner- wie außerhalb seines Körpers sein kann, ein Organ, das in einer Höhle wohnt, in ihr sichtbar ist und zuweilen aus ihr (hinaus-)steigt (2 – S. 77). Die Zunge wirkt als eine Vermittlerin und eine Brücke auf der Schwelle zwischen Innen- und Außenwelt.

In Zedlers Werk wird auf zwei Leitfunktionen der Zunge hingewiesen: auf die des Sprechens und des Schmeckens. Zwei weitere Aspekte sind bedeutsam: zum einen ihre erotische Funktion und Signalwirkung, zum andern der gewaltsame physische Angriff auf die Zunge.

Allegorisch wird sie in der frühen Neuzeit mit einem wilden oder jungen Pferd verglichen, das zu zügeln und zu lenken ist; man muss lernen, sie zu bändigen und „hart am Zaum zu halten“. Die Zunge als Teil des ganzen Körpers, dessen unwillkürliche Regungen den Geist zu beherrschen sucht (2 – S. 78) „… Aber die Zunge kann kein Mensch zäumen. (…) Wie ihr auch nur immer durch ernstliche Straffe mag Einhalt gethan werden, dennoch kan sie nicht gezähmet werden, ihre Natur bleibt unverändert.“ Zeidler schreibt, dass bei keinem anderen Glied die Neigung zur Sünde so ausgeprägt sei: „Ob sie [die Zunge] schon die Natur, wie wilde Thiere, eingeschlossen hat, und zwar mit einem gedoppelten Zaun, oder Bollwerck, nehmlich mit den Zähnen und Lippen, dennoch will sie sich nicht umschränken lassen, sondern ist bey allen Gelegenheiten bereit, wie diese wilde Thiere, auszubrechen“ (1 –
S. 263 ff).

Im Mittelalter und der frühen Neuzeit waren Zungensünden ein wichtiges Thema. Gotteslästern wurde als sprachliche Verfehlung betrachtet und die Zunge war zu bestrafen (Lindorfer). Frauen wurden für ihr Lästern und Schelten durch Tragen eines Lastersteines betraft – ein Brauch zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert. „… sei die Zunge zwar nur ein Werkzeug der Seele und diese also „der eigentliche Ort der Sünde“ (2 – S. 78). Verbrechen, die mit der Zunge begangen worden sind, wurden mit Einschlitzen, Ausreißen oder Abschneiden der Zunge bestraft.

Folgt man den Beschreibungen von Lindorfer (3), hat der Mensch trotz dieses Unvermögens die Zunge zu zügeln, versucht, dem Sprechen durch Disziplinierungsmaßnahmen Einhalt zu gebieten, …

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