Funktionsorientierte Logopädie

 

Der Einfluss von Haltung und Bewegung auf Schlucken, Sprechen und Sprache

Rezensiert von Dr. Volkmar Clausnitzer,
mit freundlicher Genehmigung des Berufsverbands Sprechen (BVS)

Mit diesem Werk ist den Herausgeberinnen unter Federführung von S. Codoni und der Mitarbeit von weiteren ausgewiesenen Vertretern verschiedener Fachrichtungen ein hervorragendes Buch zum gegenwärtigen Stand der Logopädie/Sprach-Sprechtherapie und myofunktionellen Therapie gelungen. Die zwölf MitautorInnen, zum Teil hochkarätige Wissenschaftler und Praktiker, haben die Berücksichtigung des neuesten wissenschaftlichen Standards ihrer Profession garantiert. Damit werden gesicherte Basiskenntnisse zum Gegenstand und weiterführende Anregungen aus interdisziplinärer Sicht vermittelt. Das gilt insbesondere für die MFT, die in die Behandlungskonzepte einer großen Anzahl von Krankheiten und physiologisch-funktionellen Störungen, vor allem im orofazialen bzw. stomatognathen, oropharyngealen und laryngealen Bereich, und darüber hinaus im gesamten Organismus der Patienten eingeordnet wird. Die AutorInnen weisen damit auf die Weiterentwicklung der Therapie von orofazialen Dysfunktionen hin zu einem ganzheitlichen Vorgehen entsprechend der Erkenntnis von den funktionellen und morphologischen Zusammenhängen und von deren Komplexität, Vielschichtigkeit und den Wechselwirkungen zwischen all diesen Faktoren. Diese Einbeziehung der Ganzheit des Menschen in allen seinen physiologisch-funktionellen, organischen, kognitiven, emotionalen und sozial-kommunikativen Seiten wird schon im Untertitel des Buchs „Einfluss von Haltung und Bewegung [und deren Koordination, V.C.] auf Schlucken, Sprechen und Sprache“ deutlich.

Es wird erkennbar, dass nur auf diese Weise die drei wesentlichen Kompetenzen des Menschen – Sprache, Sprechen, Schlucken (Nahrungsaufnahme) – therapeutisch erfasst werden können. Die erwähnten Zusammenhänge berücksichtigte ja bereits der „Vater“ der MFT, A. P. Rogers, in seinem Behandlungskonzept zu Anfang des 20. Jahrhunderts, was später jedoch oft „vergessen“, aber in weiteren Phasen doch wieder aufgegriffen wurde. Vor allem wurden von S. Codoni seit über 30 Jahren in ihren verschiedenen Therapieansätzen zur Behandlung von unterschiedlichen orofazialen Dysfunktionen und Störungen der Sprache und des Sprechens diese Prinzipien auf einer stets höheren Ebene verwirklicht. Das vorliegende Buch stellt gleichsam auf der Grundlage dieser Erfahrungen den bisherigen Höhepunkt der Entwicklung der MFT dar, was sich nicht zuletzt in der Mitarbeit von zwölf CoautorInnen auch im interdisziplinären Charakter dieses Therapieverfahrens und darüber hinaus der verschiedenen sprach-sprechtherapeutischen Disziplinen manifestiert. „Der interdisziplinäre Ansatz in der funktionsorientierten Logopädie beschreitet neue Wege“ (Vorwort, Seite V).

Nach dem Vorwort der drei Herausgeberinnen stellt Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. h. c. F. Zeilhofer im 1. Kapitel „Gesicht und Identität“ eine Verbindung des Gegenstands der „Funktionsorientierten Logopädie“ (einschließlich der MFT) zur Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie her und vermittelt damit ihre anthropologischen Bezüge. Im 2. Kapitel „Ein interdisziplinärer Fokus auf funktionelle Störungen“ ordnen Dr. h. c. S. Codoni (Dipl. Logopädin, Myofunktionelle, Craniosacrale und Craniofaziale Therapeutin) und I. Spirgi-Gantert (Physiotherapeutin) den Gegenstand des Buchs in seinen Entwicklungsablauf mit wichtigen Ausblicken auf weitere notwendige Anforderungen unter dem Aspekt der Einbeziehung neuer wissenschaftlicher und praktischer Erkenntnisse und organisatorischer Aufgaben ein. So wird eines ihrer Hauptziele deutlich, die Etablierung der Erkenntnis der Ganzheitlichkeit und Komplexität der Patienten in allen therapeutischen Fächern. Anschließend werden von Prof. Dr. med. habil. Dr. med. dent. R. J. Radlanski (Kieferorthopäde) im Kapitel 3 „Anatomische und physiologische Grundlagen“ in ihrer ontogenetischen Entwicklung vom Stadium des Embryos bis zum Erwachsenen sehr anschaulich und bis ins Detail gehend dargestellt. Hier bestechen besonders die zahlreichen hervorragenden farbigen Abbildungen.

Im 4. Kapitel werden die Leser von Dr. med. dent. med. pract. Jeannette A. von Jackowski mit der Vielfalt der Aufgaben der „Oralen Chirurgie“ vertraut gemacht, die auch die heutigen und zukünftigen Logopäden, Sprach-Sprechtherapeuten und myofunktionellen Therapeuten immer mehr berühren werden. Das gilt ebenso für die von der gleichen Autorin im 5. Kapitel „Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie“ vorgestellten Erkrankungen und Störungen, insbesondere LKGS-Spalten, der Zungen- und Lippenfrenula, Nervläsionen, Kraniomandibuläre Dysfunktionen (CMD), Erkrankungen der Zähne und Kiefer (z. B. nach Dysgnathieoperationen), Tumore, Zungenoperationen und Syndrome. Von Prof. Dr. odont. A. Hasund, Dr. med. dent. A. Karoglan und Dr. med. dent. K. Habersack werden in Kapitel 6 die Grundzüge der „Funktionskieferorthopädie – Stellenwert im interdisziplinären Konzept“ dargestellt. Es wird u.a. auf die Abstellung der orofazialen Dysfunktionen hingewiesen, weil andernfalls „selten ein stabiles Behandlungsergebnis erzielt werden“ kann (Seite 95).

Sehr gut werden die bereits genannten Zusammenhänge, in die die MFT eingebunden ist, von Dr. med. G. Stelzig (HNO-Ärztin, Phoniaterin) im 7. Kapitel „Ein phoniatrischer Beitrag zu orofazialen und pharyngolaryngealen Funktionen“ berücksichtigt, und zwar von der Mundmotorik und den orofazialen Funktionen über frühkindliche Besonderheiten, die Atmung, die Stimme bis zur Singstimme, das Lachen und andere laryngeale Äußerungsformen im Kontext mit der Gesamtperson des Menschen.

Im Kapitel 8 „Das Konzept der körperorientierten Sprachtherapie (k-o-s-t)® nach S. Codoni“ wird das zentrale Anliegen von Dr. h. c. S. Codoni deutlich: Die Autorin ordnet ihr holistisches MFT-System k-o-s-t® folgerichtig in die Geschichte der MFT ein. Sie versteht dieses Therapieverfahren als einen Teil des „Basler Lällekonzepts der myofunktionellen Therapie“ („Lälli“ = Zunge, Seite 135) und als Versuch, „Wege neu [zu] gehen“ (Seite 113). Dieser verdienstvolle Versuch macht im Kontext mit den anderen Kapiteln den großen Wert des ganzen Buchs aus. Von der gleichen Autorin stammt das 9. Kapitel: „k-o-s-t® Stimulationen – ,Schritt für Schritt‘ und in der Behandlung im orofazialen System“. Hier beschreibt S. Codoni die zu behandelnden morphologischen syndromalen, unfall- und krankheitsbedingten Veränderungen im orofazialen Bereich sowie die Inhalte und methodischen Grundzüge der Stimulationstherapie. Die einzelnen Anwendungen reichen von Manipulationen im Kopfbereich bis zu solchen am gesamten Körper. Dabei wird eine Reihe von Übungen aus anderen MFT-Systemen, z. B. Padovans NRP und aus dem „Basler Lällekonzept der MFT“, sowie aus der „Funktionsorientierten Faszientherapie“ (Kapitel 10) und der „Funktionellen Bewegungslehre nach Klein-Vogelbach“ (Kapitel 11) einbezogen.

S. Bacha (Physio- und Faszientherapeut) beschäftigt sich im 10. Kapitel „Funktionsorientierte Faszientherapie (FOFT). Myofaszien im Kontext einer Dysfunktion des Körperabschnitts Kopf“ auf der Basis bedeutender wissenschaftlicher Publikationen mit diesem in unseren Fachrichtungen noch relativ selten berücksichtigten „funktionelle[n] zusammenhängende[n] kollagenfaserige[n] Organ“ (Seite 172). Dieses Gewebe umhüllt sämtliche anderen Organe, Muskeln, Knochen, Nerven und Gefäße und erfüllt vielfältige Aufgaben. Der Autor beschreibt auch die morphologischen Strukturen sowie das funktionelle Konzept der myofaszialen Ketten und ihre therapeutische Berücksichtigung. Das Ziel der Therapie ist die Erreichung eines gesunden Fasziensystems als eine Voraussetzung eines normalen funktionellen Bewegungsverhaltens des ganzen Organismus.

Die Physiotherapeutinnen I. Spirgi-Gantert und G. Henzmann-Mathys gehen im 11. Kapitel auf die theoretischen Grundlagen und die Behandlungstechniken von „FBL Klein-Vogelbach Functional Kinetics. Bewegung beobachten, analysieren und instruieren“ ein. Dieses Therapiesystem ergibt durch seinen auf den Gesamtkörper der Patienten (insbesondere Konstitution, Beweglichkeit, Statik, Atmung) gerichteten Fokus eine weitere Hilfsmöglichkeit in der Behandlung von Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Ein spezielles Übungssystem für Kinder wird von dem Physiotherapeuten J. Hentschel im 12. Kapitel beschrieben: „FAITH-kids. Functional Analysis and Individual Training for Hypotonic Kids – Funktionelle Analyse und individuelles Training für hypotone Kinder”. Dieses System hat ähnliche Ziele und Behandlungstechniken wie das in Kapitel 11 beschriebene, eben für hypotone Kinder und Jugendliche. Es ist primär für Patienten der k-o-s-t®-Klientel entwickelt und inzwischen auch für Erwachsene erprobt worden.

Im 13. Kapitel wird das Anliegen des Buchs von Prof. Dr. Dr. R. J. Radlanski, Dr. h. c. S. Codoni und I. Spirgi-Gantert anhand des Fallbeispiels einer Profiklarinettistin verdeutlicht.

Ein Sachregister und ein umfangreiches Download-Angebot (über 370 MB) mit zusätzlichem Material zu den einzelnen Kapiteln, wie z.B. Videos von Behandlungen, Lehrfilmen für Eltern und Studierende, Handouts zu den Stimulationstechniken und Übungen der Kapitel 9 und 11 sowie Arbeitsblätter für Lernende, runden das faktenreiche Werk ab. Auch der didaktisch geschickte Aufbau eines jeden Kapitels, die farblich hervorgehobenen Merksätze, die hervorragenden Fotos, Grafiken und Röntgenbilder sowie die bei hoher wissenschaftlicher Qualität verständliche Diktion zeichnen das ganze Buch aus und unterstreichen den großen Wert der vermittelten Inhalte.

Zusammengefasst: Die besprochene Veröffentlichung von S. Codoni et al. gibt einen sehr guten Einblick in das Wesen und die Möglichkeiten heutiger Logopädie/Sprach- und Sprechtherapie am Beispiel der Funktionsorientierten Logopädie sowie in den Entwicklungsstand der MFT. Es werden deren vielfältige Quellen und Potenzen sowie ihre Entwicklungsreserven einbezogen. Die Publikation kann darüber hinaus als eine wichtige Grundlage für die Erarbeitung eines einheitlichen Berufsbildes für Therapeuten von Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen gewertet werden, wobei zukünftig auch die Dysphagietherapie berücksichtigt werden sollte. Insofern ist das Buch sämtlichen entsprechenden Therapeuten, auch den KollegInnen aller Teilbereiche der Sprechwissenschaft, sowie allen involvierten Medizinern, Zahnärzten und Kieferorthopäden zu empfehlen.