Kieferorthopädie und Pharmakologie
Welche Wirkung haben Medikamente, Noxen und Genussmittel auf unsere Therapie?
ZA Christopher Griewing und PD Dr. Dr. Christian Kirschneck
(veröffentlicht in Ausgabe 2/2020)
Im November 2019 konnte PD Dr. Dr. Christian Kirschneck den wichtigsten Preis der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) entgegennehmen: Den deutschen Millerpreis. Für ORTHOorofacial hat er gemeinsam mit ZA Christopher Griewing das Thema seiner ausgezeichneten Arbeit „Pharmakologische Beeinflussung der orthodontischen Zahnbewegung unter Berücksichtigung parodontal-inflammatorischer Prozesse” nochmals aufgearbeitet. Wir sind stolz, Ihnen diesen Beitrag exklusiv zur Verfügung stellen zu können.
Die zunehmende Einnahme unterschiedlicher Medikamente, Noxen und Genussmittel stellt die Kieferorthopädie immer häufiger vor die Herausforderung, dass diese prinzipiell Einfluss auf kieferorthopädische Zahnbewegungen und die Therapie nehmen können, insbesondere da zunehmend Patienten aller Altersstufen behandelt werden und der Anteil erwachsener Patienten stetig zunimmt. Darüber hinaus zeigt sich verstärkt auch bei Kindern und Jugendlichen eine Einnahme von Arzneimitteln, insbesondere von nicht-verschreibungspflichtigen Medikamenten1. Eine sorgfältige anamnestische Erhebung der medizinischen Vorgeschichte und derzeitigen Medikation kieferorthopädischer Patienten ermöglicht es dem Kieferorthopäden, mögliche Auswirkungen abzuschätzen und im Rahmen der Therapieplanung zu berücksichtigen. Im Rahmen dieses Artikels sollen basierend auf der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz die wichtigsten Gruppen von Pharmaka, Noxen und Genussmitteln besprochen werden, mit denen der Kieferorthopäde im klinischen Alltag konfrontiert wird.
Analgetika
Die sicherlich wichtigste und am häufigsten anzutreffende Gruppe von Medikamenten stellen die Analgetika oder Schmerzmittel dar, die auch vom Kieferorthopäden selbst zur Therapie kieferorthopädisch induzierter Spannungsschmerzen zu Beginn und während einer festsitzenden Behandlung verschrieben werden. Es stellt sich daher zum einen die Frage, ob gängige Analgetika wie Aspirin und Ibuprofen, die als „over-the-counter“-Produkte rezeptfrei erhältlich sind und daher oft unkontrolliert eingenommen werden, die Therapie negativ beeinflussen, zum anderen die Frage, welches Schmerzmittel vom Kieferorthopäden oder anderen Ärzten während einer kieferorthopädischen Therapie verschrieben werden sollte.
Die größte Gruppe der Schmerzmittel stellen sogenannte nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAID) dar, welche analgetisch, antiphlogistisch und antipyretisch durch Hemmung der Prostaglandin-Synthese über die eine Blockade des Enzyms Zyklooxygenase wirken, von der mindestens zwei Unterformen existieren, COX-1 und COX-2 (Abb. 1). Die verfügbaren NSAID inhibieren dabei meist beide COX-Isoformen 1 und 2 (z. B. Aspirin, Ibuprofen, Diclofenac), während die Stoffgruppe der Coxibe (Etoricoxib, Celecoxib, Parecoxib) selektiv nur die bei Entzündungen verstärkt exprimierte COX-2 hemmen, was mit weniger systemischen Nebenwirkungen (v. a. gastrale Ulzera, Asthma) assoziiert ist, was anfangs zu einer großen Nachfrage nach diesen Schmerzmitteln führte, nach dem Bekanntwerden eines erhöhten kardiovaskulären Risikos (Myokardinfarkt) jedoch zu einem deutlichen Rückgang des Einsatzes führte. Daneben gibt es teilselektive NSAID wie Meloxicam, welches eine stärkere, aber nicht ausschließlich COX-2-inhibitorische Wirkung hat. Eine eigene Stoffgruppe bezüglich des Wirkmechanismus bildet Paracetamol (Acetaminophen), welches nicht lokal im Gewebe, sondern im zentralen Nervensystem wirkt, voraussichtlich durch Inhibition einer dritten COX-Isoform (COX-3).
Zahlreiche tierexperimentelle und auch klinische Studien haben relativ übereinstimmend gezeigt, dass unselektive NSAID, zu denen Aspirin (ASS, Acetylsalicylsäure), Ibuprofen, Diclofenac und Indomethacin zählen, einen hemmenden Einfluss auf die kieferorthopädische Zahnbewegung haben2,3, da sie durch Reduktion der Prostaglandinsynthese und des lokalen Entzündungsgeschehens im Parodont auch die Osteoklastogenese und damit die Knochenresorption beeinträchtigen, da der kieferorthopädischen Zahnbewegung auf molekular-zellulärer Ebene eine sterile pseudoinflammatorische Reaktion, gesteuert durch parodontale Ligamentfibroblasten (Abb. 2), Makrophagen und andere Immunzellen, zugrunde liegt.4 Unselektive NSAID sollten daher während einer kieferorthopädischen Therapie nach Möglichkeit nicht eingesetzt werden. Ein interessanter Nebeneffekt zeigte sich in einer signifikanten Reduktion therapieassoziierter Zahnwurzelresorptionen unter Einfluss von NSAID, welcher in Zukunft auch einen Ansatz für eine gezielte pharmakologische Prävention von Zahnwurzelresorptionen darstellen könnte.5,6
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