The new normal

Ein Gespräch mit Stavros Avgerinos

(veröffentlicht im ORTHOforum 2020)

Die Pandemie beherrscht die Situation in unserem Land seit über einem halben Jahr. War die erste Phase noch durch Schock, Sorge und vielleicht auch Aktionismus geprägt, findet sich unser Land nun in einer „neuen Normalität“ wieder. Diese betrifft auch das „Mekka“ der Dentalindustrie, die IDS. Wird es im März 2021 möglich sein, die „Globale Leitmesse der Dentalindustrie“ durchzuführen? Und wenn, wie? Hierüber und über viele weitere Auswirkungen der Pandemie sprachen wir mit Stavros Avgerions – Zahnarzt, Sportzahnarzt, Mitglied des Corona-Krisenstabes der Stadt Oberhausen und Ehrenpräsident der Deutschen Gesellschaft für Sportzahnmedizin (DGSZM).

ORTHOforum: Lieber Herr Avgerinos, Sie haben die Pandemie-Situation der vergangenen Monate aus mehreren Perspektiven wahrgenommen, teils auch „hautnah“. Nehmen Sie uns doch bitte mit, wie erlebten Sie das letzte halbe Jahr?

Stavros Avgerinos: Um genau zu sein, begann mein persönliches „Corona-Erlebnis“ in der letzten Januarwoche dieses Jahres und damit vor ca. acht Monaten. Es war der Beginn der Phase der „Selbstüberschätzung“. Aus Politikkreisen fielen Sätze wie: „Wir sind gut vorbereitet“ und „wir haben Pläne in der Schublade“. Man scheute sich aus dem Gesundheitsministerium auch nicht, Vergleiche mit „der Grippe“ anzustrengen und von „im Vergleich milden Krankheitsverläufen“ zu sprechen. Eine retrospektive Beurteilung solcher Aussagen mag gleichermaßen beschämend wie unfair sein, Fakt ist jedoch, dass sie mir und einigen anderen Menschen das Vertrauen in das Krisenmanagement seitens der verantwortlichen Stellen genommen hat. Meine erste und für lange Zeit wohl preiswerteste Großbestellung an persönlicher Schutzausrüstung für Praxis- und Privatverwendung ging am 29. Januar raus.

Die Entwicklungen der folgenden Monate sind uns allen bekannt. Die nächste Eskalationsstufe wurde erreicht: Die „PIA-Phase“, wobei diese Buchstabenkombination als Akronym aus Panik, Irrationalität und Aktionismus zu verstehen ist.

Unreflektierte Verbreitung von angeblichen Fakten sowie widersprüchliche Aussagen von Wissenschaftlern, Politikern und Standesvertretern führten zu Hamsterkäufen, Lieferengpässen und tragischerweise auch zu Schließungen von Zahnarztpraxen. Wenn ich diesem Wahnsinn etwas Positives abgewinnen will, dann die hervorragende Arbeit mancher Kollegen, wie z.B. der Brüder Markus und Matthias Tröltzsch aus Ansbach, die schon sehr früh im COVID-19 Kontext auf Vernunft, Recherche und Evidenz setzten. Mit Markus waren wir zu dieser Zeit über unsere gemeinsame Dozententätigkeit in der DGSZM in regelmäßigem Austausch. Die Schlussfolgerung nach Auswertung hunderter relevanter Studien entsprach wie so oft dem Ergebnis logischen Denkens: Wir Zahnärzte haben die Verpflichtung, in unseren Praxen sämtliche zahnmedizinisch notwendigen Behandlungen durchzuführen und erfüllen durch unser Wissen und unser trainiertes Immunsystem die dafür notwendigen Voraussetzungen.

Es gibt keinen wissenschaftlichen Zweifel daran, dass unser Berufsstand durch Prophylaxe und Behandlung immunphysiologisch relevanter Erkrankungen der Mundhöhle – insbesondere in Pandemiezeiten – eine wichtige Rolle für die Erhaltung der allgemeinen Gesundheit der Bevölkerung spielt.

Diese Erkenntnisse und die mehrjährige Praxiserfahrung an der „Aerosol-Front“ als praktizierender Zahnarzt prägen auch meine Arbeit im Krisenstab der Stadt Oberhausen. So war es mir sehr wichtig, schon sehr früh auf die flächendeckende Anwendung von Mund-Nasen-Schutz hinzuwirken oder dafür zu sorgen, dass in den Zeiten der Lieferengpässe auch Zahnärzte, Kieferorthopäden und Kieferchirurgen durch die Feuerwehr mit PSA und Desinfektionsmittel versorgt werden.

Kommen wir auf heute – und morgen – zu sprechen: Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation, die Einschränkungen – und wagen Sie eine Prognose zur weiteren Entwicklung?

Avgerinos: Aktuell befinden wir uns in der dritten Phase, ich nenne sie die „Phase der doppelten Erkenntnis“. Wir haben begonnen, die Fehler der ersten Phasen zu erkennen und auch zu korrigieren. In Bereichen, in denen überreagiert wurde, wird gelockert, in anderen Bereichen werden die Maßnahmen noch verschärft. Kennzahlen wie die 7-Tage-Inzidenz oder der R-Wert werden genauer ermittelt und die Umsetzung der Maßnahmen der Coronaschutzverordnung wird regional danach ausgerichtet.

Ein Lernprozess hat eingesetzt, und große Teile der Bevölkerung in Deutschland haben mittlerweile eine vernünftige „COVID-19-Routine“ entwickelt. Dies ist die erste Erkenntnis.

Allerdings gibt es auch einen Teil der Bevölkerung, der sein Vertrauen in unsere staatlichen Strukturen verloren hat oder es nie hatte. Der Anteil dieser Menschen an der Gesamtbevölkerung ist meiner Ansicht nach die entscheidende Kennzahl für den Erfolg oder das Scheitern unserer Bemühungen im Umgang mit SARS-CoV-2. Je geschlossener eine Gesellschaft sich diesem Virus entgegenstellt, desto chancenloser ist dieses. Wir wissen z.B., dass bei der Anwendung des „Community-Mund-Nasen-Schutzes“ nicht der Selbstschutz, sondern der Schutz der Mitmenschen für die Effektivität dieser Infektionsschutzmaßnahme entscheidend ist.

Die zweite Erkenntnis ist somit, dass Virologen und Epidemiologen alleine COVID-19 nicht stoppen können. Es ist vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nur zusammen mit einem Großteil der Menschen zu lösen ist, die wir aktuell noch als „Verschwörungstheoretiker“ oder abfällig z.B. als „Aluhutspinner“ bezeichnen. Einen Großteil dieser „Systemkritiker“ haben wir in den ersten zwei Phasen der Pandemiebewältigung selbst erschaffen. Es liegt wiederum an uns, das Vertrauen dieser Menschen wieder zu gewinnen.

Sie fragen ob ich eine Prognose wage. Ich wage es, offen zuzugeben, dass ich es nicht weiß. Ich weiß nicht, ob und wann es eine Impfung oder eine effektive Medikation gegen SARS-COV-2 geben wird. Ich weiß nicht, ob Herdenimmunität die Lösung ist oder ob COVID-19 über Nacht aus unerklärlichen Gründen verschwindet. Ich weiß nur, dass alles eintreten könnte bis hin zum Worst-Case-Szenario einer Mutation mit einer Erhöhung von Virulenz und/oder Letalität. Das ist meine ehrliche Meinung und ich würde mir wünschen, dass auch Wissenschaft und Politik diesbezüglich nur gesicherte Aussagen treffen würden, ohne Vermutungen auszusprechen, wann, was, vielleicht oder hoffentlich die Pandemie beendet. Die Menschen haben ein Recht darauf, zu wissen, dass es durchaus sein kann, dass wir auf unabsehbare Zeit mit diesem Virus leben müssen, ohne über einen Impfstoff zu verfügen.

Im März 2021 erwartet uns – Stand heute – die IDS in Köln. Während der vergangenen Wochen mehrten sich die Absagen großer Aussteller, andererseits formierten sich unter dem #proIDS2021 auch einige Unternehmen, die für eine Durchführung plädieren. Der Veranstalter ließ zuletzt verlauten, eine „Hybrid-Lösung“ anzustreben – gerade auch für die internationalen Teilnehmer soll so eine „Virtuelle IDS“ möglich sein. Wie sollte eine IDS 2021 Ihrer Meinung nach aussehen? Würden Sie mit Ihrem Team die IDS besuchen?

Avgerinos: Ich werde mal offen antworten und kein Blatt vor den Mund nehmen: Es ist für mich völlig inakzeptabel, dass seitens der Koelnmesse GmbH, des VDDI e.V. und der GFDI kein Konzept existiert, das eine Durchführbarkeit der Messe mit einer an die Pandemielage angepassten Form gewährleistet. Die Voraussetzungen sind doch klar: Eine IDS, wie wir sie kannten, vor allem mit dem Gedränge tausender Menschen aus aller Welt am Samstag oder Mittwoch- und Freitagnachmittag, wird es 2021 und meiner Meinung nach auch 2023 nicht geben. Das mag vielleicht auf den ersten Blick wie eine Katastrophe klingen, aber ist es nicht auch eine Gelegenheit, mal „out of the box“ zu denken und die Chancen in dieser Krise zu sehen? War die Maschine nicht auch in diesem Bereich heiß gelaufen? Ist es wirklich zielführend für Aussteller und fachlich interessierte Besucher, wenn sich geschätzte 60% ZFAs auf der Jagd nach Giveaways und Tickets für die diversen IDS-Aftershowparties durch Gänge und Stände drängeln?

Schön, dass der Veranstalter zuletzt verlauten ließ, eine Hybrid-Lösung anstreben zu wollen. Wahrscheinlich erwartet man für diesen Geistesblitz noch einen Innovationspreis. Im März 2020 hätte ich bei der Verleihung noch applaudiert. Ende September muss ich mich allerdings fragen, ob die Verantwortlichen die letzten Monate im Urlaub und gänzlich abgeschnitten vom Weltgeschehen verbracht haben.

Selbstverständlich muss es eine Hybridlösung geben. Präsenzveranstaltung und virtuelle Angebote in variabel anpassbarer Analogie. Vor Ort müssen z.B. in den Gängen Mindestabstände eingehalten werden können und die Nachverfolgbarkeit muss gewährleistet sein. Hierfür sind auch elektronische Trackingverfahren denkbar. Die Verwendung von Mund-Nasen-Schutz sollte, außer sitzend am Tisch in den Restaurant-Bereichen, selbstverständlich sein. Essen und Trinken to go und an den Ständen ist nicht möglich.

Mit rund 160.000 Besuchern in fünf Tagen ist das nicht realisierbar. Aus meinen Erfahrungen im Sportbereich wird man mit einem vernünftigen und genehmigungsfähigen Konzept zwischen 20.000 und 60.000 Teilnehmer in die Deutzer Messehallen lassen können – möglichst gleichmäßig über die gesamte Messedauer verteilt und unter strikter Umsetzung des Konzeptes. Auf die Ein- und Ausgänge muss besonders geachtet werden, da hier erfahrungsgemäß am ehesten Personenansammlungen zu erwarten sind.

Das ist alles nicht neu und es gibt für alles Lösungen, aber man muss handeln – und das schnell. Die Absagen, die schon zu verzeichnen sind, hätten zumindest zum Teil vermieden werden können.

Entschließt man sich letztendlich, ein Hybrid-Modell umzusetzen, muss dies dynamisch anpassbar sein und sämtliche Szenarien abdecken. Wir wissen nicht, wie die Pandemielage sich Anfang März kommenden Jahres entwickeln wird.

Ich persönlich würde dann die IDS mit meiner Praxis besuchen, schon alleine um ein Signal zu setzen, dass sich eine „Normalität“ mit SARS-COV-2 umsetzen lässt, solange wir verantwortungsvoll und besonnen handeln.

„Nebenbei“ sind Sie Präsident eines Profi-Eishockey-Teams, den Füchsen Duisburg. Auch Profisportvereine leiden unter der aktuellen Situation – wie wird sich die kommende Saison entwickeln?

Avgerinos: Nett, dass Sie das ansprechen. Ich hätte gehofft, dieser Kelch geht an mir vorbei. Ich formuliere das mal vorsichtig.

Ja, Profisportvereine leiden unter COVID-19, aber sie leiden noch viel mehr unter der Lethargie und Inkompetenz vieler Entscheidungsträger. Mehr als sechs Monate nach Abbruch des Ligabetriebes im März 2020 ist so gut wie nichts geregelt. Man wartet händeringend auf Lösungen von außen. Die Impfung, den Wecker, um aus dem bösen Traum zu erwachen, oder, wenn alle Stricke reißen, staatliche Hilfen.

Die Politik würde das Geschäftsmodell der Deutschen Eishockeyliga zerstören, musste ich vor ein paar Tagen lesen. Ein Konstrukt, das sich als Hobby einiger weniger Mäzene darstellt, und das schon seit Jahren sich jeder betriebswirtschaftlichen Sinnhaftigkeit entzieht. Selbst in der Oberliga (3. Liga) sind eine Vielzahl der Spieler Profis und verlassen sich bis zum heutigen Tag darauf, dass alles gut gehen wird. Ich drücke die Daumen und hoffe, dass die Hilfsgelder fließen werden, auch unter „Umgehung“ der im Hilfspaket erwähnten EU-Richtlinie, wonach zum 31.12.2019 in der Bilanz keine finanziellen Schwierigkeiten vorliegen dürfen.

Wir haben in Duisburg früh die Reißleine gezogen und haben aufgrund der absehbaren finanziellen Risiken durch fehlende Zuschauereinnahmen und dem Abbruchrisiko unsere Meldeunterlagen für die Oberliga nicht abgegeben. Wir starten am 6.11. eine Division tiefer in der Regionalliga, und haben dafür gesorgt, dass alle Spieler unseres Kaders ihren Lebensunterhalt außerhalb des Eishockeysports verdienen und krisensicher durch diese schwierige Zeit kommen. Das Saisonziel ist die Meisterschaft und die sportliche Qualifikation für die Oberliga, in der wir übrigens weiterhin ohne Profis im herkömmlichen Sinn spielen werden.

Und schließlich: Der Blick in die Glaskugel. Aus Ihrer Perspektive als Mitglied des Krisenstabs: Wie werden „wir“ durch die Wintermonate kommen, wie wird sich 2021 für die Praxen entwickeln, welche Weichen wird die Politik (noch) stellen müssen und welche Auswirkungen kann und wird dies auf uns als Gesellschaft nach Ihrem Dafürhalten haben?

Avgerinos: Ich bin der festen Überzeugung, dass „wir“ – und damit meine ich Zahnärzte, Kieferorthopäden und Kieferchirurgen –, die besten Voraussetzungen mitbringen, um unbeschadet unser Personal, unsere Patienten und uns gesund durch die Krise zu bringen. Wir sind Profis im Umgang mit pathogenen Mikroorganismen und haben das Wissen, um uns und andere effektiv zu schützen. Von der Politik erwarte ich nur, pragmatisch zu bleiben und mit Augenmaß Maßnahmen zu steuern, um das Infektionsgeschehen weiterhin kontrollieren zu können.

Unser Berufsstand kann sich am besten selbst helfen, indem wir unser Wissen vertiefen, vorausschauend handeln und auf allen Ebenen untereinander und gegenüber unseren Patienten ehrlich kommunizieren. Ich wiederhole mich, aber wir leisten einen wichtigen Beitrag für die Erhaltung der allgemeinen Gesundheit der Menschen.

Ich hoffe, dass wir als Gesellschaft mit der Erkenntnis, es gemeinsam geschafft zu haben, aus dieser Krise kommen.

Mich selbst hat dieses Virus geerdet. Ich hatte vor allem in den Wochen des Lockdowns viel Zeit für meine Familie und Zeit zum Nachdenken.
SARS-COV-2 hat einiges aufgedeckt, was vorher schon unrund lief, und uns die Augen dafür geöffnet, was ehrlich, sinnvoll und menschlich ist.

Vielen Dank, Herr Avgerinos, für dieses interessante, fundierte und offene Gespräch.


Stavros Avgerinos

geboren 1970 in Alexandroupolis/Giechenland, Studium der Zahnmedizin an der Julius-Maximillian-Universität Würzburg, seit 1998 niedergelassen und Praxisinhaber in Oberhausen/NRW, seit 2009 Firmengründer und CEO der Intrasmile Ltd. Group of Companies

Berufliche Fortbildung: offiziell zertifizierter Teamdentist durch die international academy of sports dentistry / weitere Tätigkeitsschwerpunkte: Traumatologie, Parodontologie, Implantologie / Mitglied in Fachgesellschaften: DGSZM (Deutsche Gesellschaft für Sportzahnmedizin), IASD (IAcademy of Sports Dentistry), DGZI (Deutsche Gesellschaft für Zahnärztliche Implantologie, EA4SD (European Academy for Sports Dentistry) u.a.

Öffentlichkeitsarbeit: Gründungsmitglied und Ehrenpräsident der Deutschen Gesellschaft für Sportzahnmedizin (DGSZM), Vorstandsvorsitzender des Eissportvereins Duisburg e.V. (Die Füchse), Verbandszahnarzt des AFCV-NRW und in der Medizinkommission des AFVD (American Football) / Profisportbetreuung: seit 2007 zahnmedizinische Betreuung von Profisportlern in den Sportarten Boxen, Fußball, Eishockey, MMA, Triathlon, American Football, Bogenschießen, Tennis, Golf, Downhill MTB u.v.a.


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© Koelnmesse GmbH, IDS, Harald Fleissner
Stavros Avgerinos