Alignerverschwendung und wie Sie diese vermeiden können

Dieser Artikel berichtet über unsere Erfahrungen mit Alignerverschwendung, die damit verbundene Abfallentstehung und was man als Kieferorthopäde in der Praxis dagegen tun kann. Es ist ein Appell an alle Kieferorthopäden und Aligneranwender die Alignerbehandlung mit einem nachhaltigen Blick zu betrachten. Wir teilen unsere Ideen und Tipps wie auch Sie im Praxisalltag und bei Alignerbestellungen keine unnötigen Ressourcen verschwenden.

 

Alignerverschwendung | Nachhaltigkeit | Refinements vermeiden | Greenwashing |

Von Victoria Martin MSc. (Düsseldorf) & Dr. Tatjana Spießhofer MSc. (Mögglingen)

 

Alignerverschwendung und wie Sie diese vermeiden können

Die Kieferorthopädie mit Clear Alignern hat unseren Beruf grundlegend verändert. Mit der Einführung des Invisalign®-Systems in den späten 90er Jahren leistete Align Technology Pionierarbeit auf dem Markt der Kieferorthopäden und leitete mit ihrem Produkt die digitale, transparente und herausnehmbare Kieferorthopädie ein [1].

Wenn Sie Kieferorthopäde & Aligneranwender sind, haben Sie wahrscheinlich schon die vielen Vorteile von Alignern für sich und Ihre Patienten kennengelernt. Wahrscheinlich aber auch einige der Nachteile, wie z. B., dass der Erfolg von der Mitarbeit des Patienten abhängt, die mangelnde Kontrolle über bestimmte Bewegungen, die Unvorhersehbarkeit und die zahlreichen Refinements [3,5-9,10,12].

Derzeit bieten die großen Aligner-Unternehmen einen ähnlichen Bestellprozess für ihre Kunden an: sie senden Ihnen so viele Aligner wie Sie wünschen zu. Bei Bedarf können Sie unbegrenzt weitere bestellen, sofern Sie diese innerhalb eines bestimmten Zeitraums anfordern. Im Falle von Invisalign® und Spark-Alignern ist dieser Zeitraum auf bis zu 5 Jahre begrenzt.

Dieser Ansatz ist sowohl im Sinne des Patienten als auch des Arztes, da die Ärzte unabhängig von der Anzahl der Aligner ihren Patienten eine erfolgreiche Behandlung garantieren können und für die Patienten keine weiteren hohen Kosten entstehen.

 

Ein Beispiel der Verschwendung

Bei einem komplexen Fall, in dem wir beispielsweise eine 50%-ige Distalisation planen, erhalten wir circa 80 Aligner auf einmal. Wenn wir jedoch nach 30 Alignern feststellen, dass die Aligner nicht passen und die Planung nicht wie gedacht funktioniert, müssen wir die Behandlung unterbrechen und neue Aligner bestellen.

Man kann diese unerwünschten Situationen leider nicht immer vorhersagen. Da aber gleich mehrere Faktoren eine Rolle spielen, begegnen wir diesem Problem relativ häufig im Praxisalltag.

In dem oben genannten Beispiel liegt die Unterbrechung vom geplanten Verlauf vielleicht daran, dass die Molaren nicht ausreichend distalisiert wurden, eventuell sind die klinischen Kronen zu kurz, der Knochen ist zu stark mineralisiert, es gibt Mikrokollisionen zwischen den Zähnen oder der Patient hat die Motivation verloren und trägt die Aligner nicht ausreichend.

Was auch immer der Grund sein mag, die Planung und Behandlung funktionieren nicht und es macht demnach keinen Sinn mit den bereits bestellten Alignern fortzufahren. Also ändern wir die Planung. Es werden neue Aligner bestellt und 50 unbenutzte Aligner weggeworfen. Man wirft demnach mehr Aligner weg, als der Patient erhalten hat.

Diese Methode, mehr Aligner als nötig zu produzieren, widerspricht nicht nur dem heutigen Nachhaltigkeitsansatz im Zusammenhang mit der Umweltkrise und dem Klimawandel, sondern hat auch einige Nachteile für die Motivation und das Vertrauen der Patienten. Ist es also wirklich sinnvoll, alle Aligner auf einmal herstellen zu lassen? In diesem Beispiel hat der Patient die 50 maßgefertigten Aligner noch nicht einmal gesehen!

Ist Ihnen etwas Ähnliches auch schon passiert? Wahrscheinlich kommt Ihnen diese Situation bekannt vor, denn in unserer langjährigen Erfahrung als Aligner-Anwender ist uns das schon oft passiert. Jeder, der komplexe Fälle mit Alignern behandelt, wirft zum Teil unbenutzte Aligner weg. Manche Behandler schenken dem aber keine Beachtung. Und genau da liegt das Problem.

 

Nachhaltig sein mit Aligern?

Vor sieben Jahren erzählte eine unserer Patientinnen, wie sehr sie ihre Alignerbehandlung wertschätzt, aber wie viel Abfall dabei entstehen würde. Vor allem, wenn eine große Anzahl unbenutzter Aligner im Müll landet. Nachdem wir das gehört hatten, wussten wir zunächst nicht, was wir ihr antworten sollten. Denn vor diesem Gespräch hatten wir noch nie darüber nachgedacht. Wir kümmern uns um die Natur, die Umweltverschmutzung und den Klimawandel, benutzen wiederbefüllbare Flaschen und eine wiederverwendbare Tasche. Und plötzlich wurde uns in dem Moment deutlich gemacht, wie viele unbenutzte Aligner in der Praxis verschwendet werden.

Nach dieser Situation sprachen wir mit Invisalign®-Mitarbeitern darüber und sie erklärten uns, dass die Verschwendung von Alignern ein bekanntes Problem innerhalb des Unternehmens sei und sie bereits nach Lösungsansätzen suchen. Das war im Jahr 2015. Seitdem haben weder Align Technology noch ihre Hauptkonkurrenten Maßnahmen ergriffen, um zu verhindern, dass unbenutzte Aligner verschwendet werden.

Also begannen wir mit unserer eigenen Strategie, die wir “divide and conquer” (zu Deutsch: „kürze und siege“) nannten. Bei dieser Strategie bestellen wir die Aligner in 2 Phasen: Anstatt einen ClinCheck mit über 90 Alignern zu genehmigen, fordern wir zunächst nur die ersten 30 Aligner an. Somit kann man sehen, wie gut die Planung funktioniert und ob die Mitarbeit des Patienten gegeben ist. Wenn sich nach den ersten 30 Alignern herausstellt, dass alles nach Plan funktioniert, kann man die restlichen Aligner anfordern ohne dafür neue Unterlagen (Fotos, Scan, Abdrücke) anfertigen und einreichen zu müssen.

Wir arbeiten seit 2015 nach dieser Strategie und habe diesen Rat an jeden weitergegeben, den wir erreichen konnten.

 

Vorteile von weniger Alignern

Abgesehen von der Verringerung der Umweltbelastung durch unsere tägliche Arbeit mit Alignern, hat die Strategie “divide and conquer” mehrere Vorteile für Sie und den Patienten:

Die Patienten nehmen Aligner als Hightech-Geräte wahr, die individuell angefertigt werden und hochwertig sind. Daher verstehen die Patienten nicht wirklich, dass unbenutzte Aligner während der Behandlung weggeworfen werden und zwar nur, weil sich die Zähne nicht wie geplant bewegen. Wenn Sie also nicht alle Aligner auf einmal bestellen, müssen Sie Ihren Patienten nicht davon überzeugen, die Behandlung zu unterbrechen, ihn warten zu lassen bis die neuen Aligner eintreffen und die restlichen nicht verwendeten Aligner wegzuwerfen. Wenn Sie die Aligner in zwei Phasen bestellen, können Sie die Behandlungsplanung leichter anpassen. Sie müssen zudem kein unangenehmes Gespräch mit Ihrem Patienten führen, warum der Behandlungsplan nicht funktioniert ohne Begriffe und Konzepte wie „biologische Grenzen“ oder „Verankerung“ erklären zu müssen. Außerdem benötigen Sie weniger Platz in der Praxis, um die Behandlungsboxen zu lagern. Warum möchten Sie Aligner lagern, die Ihr Patient erst in einem Jahr oder sogar noch später tragen wird? Hat Ihre Praxis diese Kapazitäten?

Diese Strategie kommt auch Ihrem Patienten zugute, denn es ist für die Patienten etwas Anderes zuerst 45 Aligner und im Anschluss noch 25 weitere anstatt 70 Aligner auf einmal zu erhalten.

Und wenn Ihnen die Umwelt am Herzen liegt, hat diese Arbeitsweise natürlich viel mehr Auswirkungen auf die Ressourcenverschwendung, als wenn Sie Ihre wiederverwendbare Tasche oder Ihre wiederverwendbare Flasche benutzen.

Align Technology, Ormco und andere Aligner-Hersteller sollten die Kieferorthopäden dazu animieren, nicht alle Aligner auf einmal zu bestellen. Die Hersteller selbst sparen damit auch bei der Produktion. Denn es ist nicht nur der Alignerkunststoff und die Verpackung die wir verschwenden, sondern sämtliche Produktionsabfälle in dem Enstehungsprozess, da für jeden Aligner jeweils ein gedrucktes Modell erstellt werden muss. Auch der Transport und die Energie, die nötig sind, um die Aligner am Ende zu entsorgen, tragen dazu bei. Die Verschwendung von Ressourcen ist im Jahr 2022 nicht mehr zu übersehen. Warum sollte also ein Unternehmen überproduzieren und Abfall erzeugen? Hängt die jüngste Preiserhöhung von Aligneranbietern mit der Überproduktion zusammen?

Der wissenschaftlichen Literatur und unserer eigenen Erfahrung nach gibt es mehrere Situationen, in denen wir Aligner verschwenden. Dies ist unsere Liste der „Top 10 Verschwendungen”:

  1. Große sequenzielle Bewegungen wie Distalisation von mehr als 3 mm
  2. Extrusion der Eckzähne oder der Seitenzähne
  3. Schwierige Derotationen (unterer Prämolaren)
  4. Aufrichten der Molaren
  5. Schlechte Mitarbeit
  6. Exzessive Überkorrektur
  7. Zahndurchbruch bei Kindern
  8. Klinisch kurze Kronen
  9. Zahnärztliche Notfallbehandlungen während der Aligner-Behandlung
  10. Produktionsmängel

 

TAKE HOME: Wie können Sie unnötige Refinements vermeiden?

1 Bitten Sie Ihren Patienten alle getragenen Aligner aufzubewahren! Falls er sie nicht ausreichend getragen hat, kann er einige Aligner zurückgehen und sie erneut tragen. Lassen Sie Ihren Patienten die Aligner nur alle 7 Tage wechseln, wenn er Ihnen bewiesen hat, dass er sie 20 Stunden am Tag trägt – falls nicht, nur alle 10-14 Tage wechseln lassen.

2 Seien Sie realistisch bei den geplanten Bewegungen. Verwenden Sie Non-Compliance-Hilfsmittel wie Teilbögen und TADs, um vorhersehbare Bewegungen zu erzielen (s. Abb. 1-3). Führen Sie Vorbehandlungen durch und verkürzen Sie die Behandlungszeit mit Alignern. Niemand möchte über 100 Aligner tragen.

3 Seien Sie vorsichtig mit Überkorrekturen. Eine gewisse Überkorrektur wird empfohlen, aber glauben Sie nicht, dass das Ergebnis umso besser ist, je mehr Überkorrekturen vorgenommen werden.

4 Setzen Sie Ihre Ziele in den Vordergrund. Teilen Sie lange Behandlungen ein und verlangen Sie eine angemessene Anzahl von Alignern.

5 Beginnen Sie den Fall nicht mit durchbrechenden Eckzähnen oder Prämolaren. Es scheint offensichtlich zu sein, aber manchmal werden Ärzte ungeduldig, wenn sie mit der Behandlung starten wollen.

6 Verbringen Sie Zeit mit der Analyse Ihrer alten ClinChecks/Simulationen, um zu vermeiden, dass Sie die gleichen Fehler immer wieder machen.

 

Align Technology und seine Hauptkonkurrenten geben an, sich um Nachhaltigkeit zu bemühen. Align Technology hat sogar Maßnahmen ergriffen, die das Recycling von Alignern fördern [2,6,10]. Recycling ist hier ein Ansatz mit sehr geringer Wirkung und sieht eher nach „Greenwashing“ als nach einer Problemlösungsmethode aus, da sie keine Recyclingmaterialien für die Herstellung von Alignern verwenden können. Die Aligner können nicht in andere Aligner recycelt werden, es wird also nie ein Kreislaufsystem entstehen [8,11]. Die Aligner, die Verpackung und ihre Produktionsabfälle können im besten Fall und mit viel Aufwand downgecycelt werden. Für die Aligner-Industrie ist Recycling also keine Option.

Von Bremen et al. fragten bei 32 Alignerunternehmen nach der Produktion, Recycling und dem Nachhaltigkeitsbestreben der Firmen an [13]. Es antworteten lediglich 8 von 32 Firmen auf die Umfrage. Zwei der Firmen gaben an, die gedruckten Zahnkränze zu recyceln, fünf schicken die Zahnkränze an den Behandler und ein Hersteller gab an, den Behandler entscheiden zu lassen, ob er die Zahnkränze haben wolle, anderenfalls würden diese entsorgt. Vier von den Firmen gaben an, dass sie an biologisch abbaubaren Materialien für den 3D-Druck und für die Alignerproduktion forschen. Ein Hersteller berichtete sogar über laufende Forschungsprojekte zu einem direktem Alignerdruck.

 

Kommunikation und Innovation

Aligner-Unternehmen sollten offen über dieses Thema reden und Transparenz für den Anwender schaffen. Das Bewusstsein sollte für das Problem geschärft werden. Ein Ansatz wäre den Anwendern die Option aufzuzeigen, dass es bei komplexen Behandlungen nicht notwendig ist, alle Aligner auf einmal zu bestellen. Sie könnten sich auch auf die Verbesserung des Materials fokussieren, um die Anzahl der pro Patienten benötigten Aligners zu verringern, wie z. B. das innovative ClearX®-System, wo die Schienen alle 3 Wochen statt wöchentlich gewechselt werden und sich so die Produktion von Modellen und Abfällen um die Hälfte reduziert [4]. Neben der Produktion und Überproduktion, könnte auch die Verpackung, in der die Aligner geliefert werden, reduziert werden [8].

Clear Aligner sind ein Fortschritt der Kieferorthopädie. Invisalign® und Align-Technology werden Stolz mit dem Wort Innovation in Verbindung gebracht. Aber es ist schon mehr als 20 Jahre her, dass sie dieses innovative kieferorthopädische System auf den Markt gebracht haben. Wird die nächste Innovation Teil einer verantwortungsvollen Unternehmensstrategie sein?

Wir möchten die Aligner-Industrie nicht verurteilen, da die Aligner für uns einen Wendepunkt in der Kieferorthopädie darstellen und unser Arbeitsleben bestimmen. Wir möchten nur, dass die Aligner-Industrie dieses Problem als Chance sieht, sich zu verbessern und ein Beispiel für andere Branchen darstellt. Wir wollen Sie auffordern, die „rosarote Brille” abzunehmen und die „grüne Brille” aufzusetzen. Lassen Sie uns die Diskussion beginnen und gemeinsam an Lösungen arbeiten, die wir brauchen, um die globalen Ziele zu erreichen, die die Generation „Fridays for Future” verdient.