Angst in der kieferortho­pädi­schen Praxis

von Prof. Dr. Kropp

(veröffentlicht in Ausgabe 3/2020)

Angst ist eine uns allen bekannte „primäre Emotion“. Emotion deswegen, weil sie ein Gefühl darstellt, „primär“ weil Angst, Freude, Ärger, Überraschung, Ekel und Trauer nicht erlernt werden müssen. Dies Emotionen sind quasi „festverdrahtet“, jederzeit abrufbar und lösen eine enorme verhaltenssteuernde Wirkung aus. Mittlerweile weiß man: wegen der Angstreaktion mit ihren Auswirkungen auf den Sympathikus hat die Menschheit überhaupt überlebt: die starke Angstaktivierung mit Blutdrucksteigerung ermöglicht einen Kräftezuwachs in der Muskulatur, eine bessere Wahrnehmung im Sinnessystem und eine reaktionsschnellere Motorik in Gefahrensituationen. Dies sind beste Voraussetzungen, sich schnell vor dem Wildschwein oder dem Bären in Sicherheit zu bringen.

Obwohl der Mensch heute nur noch sehr selten diesen Gefahren ausgesetzt ist, verfügt er weiterhin über dieses Verhaltensrepertoire. Dies hat zur Folge, dass Ängste weiterhin mit ihren körperlichen Auswirkungen erlebt werden, obwohl dieser motorische „Turbo“ nicht nötig ist. Nahezu jeder kennt diese Situation aus Prüfungen: Man könnte zwar Bäume ausreißen, aber gerade dann wird die Kognition zugunsten der Wirkung der Emotion ausgeschaltet. Ein kognitiver „Blackout“ ist die Folge.

Auch bei der kieferorthopädischen Behandlung spielen Angstreaktionen eine Rolle. So wird je nach Vorerfahrung der „Turbo“ mehr oder weniger angeschaltet, aber der Patient hat möglichst ruhig zu sitzen und die Angstreaktion zu unterdrücken. Dies ist nahezu unmöglich, weil die Kognition der Emotion immer nacheilt und deswegen jeglicher Apell („stell Dich nicht so an“) ins Leere läuft.
Erhebungen zeigen, dass je jünger das zu behandelnde Kind ist, eine Angstkontrolle umso schwerer wird. Aber auch Erwachsene leiden bekanntlich darunter. Dabei spielt die Angst vor Schmerzen bei der Behandlung eine geringere Rolle. Es ist vielmehr der Faktor „Unvorhersagbarkeit“, der eine Angstreaktion auslösen kann.

Wenn der Patient keine Vorhersage treffen kann, was als nächstes passiert, beginnt die Angstreaktion. Vorhersagen bieten Sicherheit und Struktur. Deswegen hat sich bewährt, die einzelnen Behandlungsschritte, sind sie auch noch so einfach, anzukündigen und dem Patienten genau zu erläutern. Das kostet zwar Zeit, reduziert jedoch schnell eine aufkommende Angstreaktion und bessert damit die Kommunikation zwischen Arzt und Patient und damit dessen Compliance und Adhärenz.

In einer eigenen kleinen Studie haben wir vor einigen Jahren an 88 Kindern im mittleren Alter von 10 ½ Jahren mittels Fragebogen erfasst, welche Faktoren tatsächlich die Kooperation des (kleinen) Patienten fördern. Erstaunlicherweise spielte Sympathie nur eine untergeordnete Rolle. Es war in erster Linie die „wahrgenommene Aufrichtigkeit“ des Behandlers. Damit ist gemeint, dass die Behandlungsschritte ehrlich angekündigt und durchgeführt werden. Wenn es dabei je schmerzen sollte, so sollte dies auch angekündigt werden. Das Ausmaß der Schmerzen spielte aber keine Rolle.

Entscheidend war jedoch ein anderes, kleines Detail in der Kommunikation zwischen Behandler und Zahnarzt: Bei Erklärungen, Fragen und Entscheidungen sollte sich der Arzt auf die Aufnahme-Geschwindigkeit des Patienten einstellen, nicht umgekehrt.

Einen großen Einfluss auf eine schnelle Angstreduzierung während der Behandlung und die folgenden Behandlungssitzungen hatten die gleiche Umgebung in den folgenden Sitzungen (dies spielt bei mehreren möglichen Behandlungsplätzen eine Rolle) und eine farbenfrohe Gestaltung des Behandlungsplatzes. Erklärbar ist dies damit, dass der Mensch – ob groß oder klein – aus Signalreizen sein Sicherheitsempfinden stärkt. Eine farbige Umgebung bietet mehr Signalreize und gemeinsam mit dem bekannten Behandlungszimmer eine größere Sicherheit und damit mehr Angstfreiheit.

Eine größere Chance, mit wenig Ängsten eine Zahnbehandlung zu überstehen, gelingt zumindest bei Kindern mit folgenden Maßnahmen:

  1. aufrichtiges Verhalten gegenüber dem Patienten
  2. Einstellen auf die individuelle Aufnahmefähigkeit
  3. Beschreiben der einzelnen Schritte der Prozeduren
  4. Gelegentlich eine kurze Pause einlegen
  5. Farbenfrohe Umgebung
  6. Bei wiederholtem Besuch: gleicher Behandlungsplatz

Diese Empfehlungen sind nur ein kleiner Beitrag für eine mögliche Angstminderung während der Zahnbehandlung. Sie sind aber äußerst wirkungsvoll und können sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ohne großen Aufwand umgesetzt werden. Die Tipps helfen dabei, die Reaktion auf Wildschwein oder Bär dort zu belassen, wo sie herkommt; zumindest hat sie im Behandlungszimmer nichts zu suchen.


Bildnachweis

www.komafoto.de – stock.adobe.com