Auf ein Wort mit … Dr. Jan V. Raiman

Der passionierte Fachzahnarzt für Kieferorthopädie ist in eigener Praxis in Hannover niedergelassen. Er ist gefragter Referent auf zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen, Initiator der internationalen Kongressreihe IOS (International Orthodontic Symposium), Gründungsmitglied der EurAsian Association of Orthodontists (EAO) sowie Vorsitzender des CMD-Dachverbands. Für ORTHOorofacial unterbrach Dr. Raiman seinen Urlaub für ein Interview über gelebte Interdisziplinarität, gemeinsame Ansätze und einen Blick in die Zukunft.

ORTHOorofacial: Lieber Herr Dr. Raiman, der interdisziplinäre Ansatz in der KFO liegt Ihnen erkennbar am Herzen. Wo finden sich Ihrer Meinung nach die wichtigsten Ansatzpunkte?

Dr. Jan V. Raiman: Kieferorthopädie ist Prophylaxe – und das im interdisziplinären Zusammenspiel. Das steht für mich ganz oben und eigentlich über allem. In der Zahnheilkunde wurden mit Prophylaxe in den letzten Jahren große Erfolge erzielt und medienwirksam in die Öffentlichkeit transportiert – die Bedeutung der Kieferorthopädie kommt mir hier ganz klar zu kurz.

Sehen wir allein die CMD-Problematik. Wird hier – nach einer umfangreichen und qualitativ einwandfreien Diagnostik durch den dafür ausgebildeten Fachzahnarzt – rechtzeitig behandelt, können wir beispielsweise gemeinsam mit der Physiotherapie enorme Erfolge erzielen, mit geringem therapeutischem Aufwand. Größere Probleme, die eine langwierige und oft auch schmerzhafte Behandlung nach sich ziehen, müssen gar nicht erst entstehen.

Wir setzen frühestmöglich gemeinsam mit den benachbarten Disziplinen wie der Zahnheilkunde oder der Physiotherapie an, um den Patienten vor Schaden zu bewahren. Das ist Orale Medizin, das ist Prophylaxe. Das erfordert natürlich Erfahrung, gesunden Menschenverstand, ein umfangreiches Netzwerk und die Bereitschaft, sich selbst etwas hinten an zu stellen, „am Boden zu bleiben“.

Und es erfordert ein umfangreiches Wissen um die richtige Diagnostik. Die, und das möchte ich nochmals unterstreichen, unbedingt in die Hände von Medizinern gehört, und nicht durch irgendwelche Do-it-yourself-Abdrücke entstehen darf.

Den Menschen „als Ganzes“ zu sehen, die Problematik um Zahn- und Kieferfehlstellungen weiter zu fassen, ist ja nun an sich keine ganz neue Idee. Warum setzt sich das Wissen um die Zusammenhänge nicht schon lange und auf deutlich breiterer Ebene durch? Gibt es aktuell Projekte, dies weiter voranzutreiben?

Raiman: Lassen Sie mich zunächst auf die Frage eingehen, warum sich ein solcher Behandlungsansatz nicht schon längst in der Breite durchgesetzt hat. Um es mal provokant zu formulieren: Weil es verkompliziert wird. Weil es eher akademisch als praktisch angegangen wird.

Ich komme wieder auf die CMD zu sprechen, einfach, weil das so beispielhaft ist. Wir sehen in der Praxis, dass rund 90 % der Schmerzpatienten unter Verspannungen leiden. Und wir bei den Verspannungen ansetzen müssen. Da muss nichts operiert werden, große Geschütze sind da völlig unnötig. Wir legen die Basis mit einer umfangreichen Funktionsanalyse – das machen wir Kieferorthopäden. Dann arbeiten wir mit den Therapeuten zusammen, es geht um Entspannung, um Physiotherapie, um Stressreduzierung. Und dann setzen wir den „AquaSplint“ von Dr. Sabbagh ein. Ein „Kissen, das wir zwischen die Zähne legen“ und sofort Entspannung in die Kaumuskulatur bringt. Das ist für mich wirklich das Gerät der Wahl – Sie sehen eine Verbesserung ab der ersten Sekunde, in der es der Patient trägt. Und auch der Patient nimmt diese Verbesserung wahr, was seine Compliance natürlich deutlich erhöht.

Ich hatte vorher schon erwähnt, dass ein solch minimalistisches interdisziplinäres Vorgehen großer Erfahrung bedarf und das Wissen um die Funktion. Leider sehen wir auch immer wieder Konstruktionen, die den Patienten eingesetzt wurden und die Situation nur verschlimmert haben. Dann wird dorsal eine falsche Bisslage unterstützt, was großen Schaden anrichtet. Wichtig ist: Eine freie Bewegung des Unterkiefers nach vorne muss gewährleistet werden. Das erreichen wir mit Hilfe des AquaSplints. Ein Stretching der Kaumuskulatur bringt Entspannung mit Sofortwirkung. Dies ist akut eine sehr gute Initialhilfe, bevor eine speziell konstruierte Aufbissschiene oder COPA/ALF Variante eingesetzt wird. Dann kann die interdisziplinäre Therapie beginnen.

Der CMD-Dachverband, dessen 1. Vorsitzender Sie sind, hat es sich zur Aufgabe gemacht, „durch umfassende interdisziplinäre Zusammenarbeit die Lebensqualität der betroffenen CMD-Patienten im Rahmen des therapeutisch Möglichen zu verbessern“. Hierzu bietet der Verband eine Plattform, sowohl kommunikativ zwischen den Behandlern als auch für interessierte Patienten. Was konnte der Verband zwischenzeitlich initiieren und umsetzen?

Raiman: Sie sagen das ganz richtig, es geht darum, die Kommunikation zwischen den Behandlern zu fördern, denn die steckt leider noch immer in den Kinderschuhen. In meiner Zeit als Vorsitzender haben wir bereits einige Treffen organisiert, die die Disziplinen zueinander bringen. Ziel ist es, hier Hemmschwellen zu überwinden, sozusagen Mauern einzureißen und das Wohl des Patienten in den gemeinsamen Fokus zu stellen. Diese Treffen haben sich sehr gut entwickelt, es entstanden neue Netzwerke – und leider wurden wir, wie viele andere Verbände auch, durch die Pandemie ausgebremst. So befindet sich dieses Projekt gerade am Ende eines „Winterschlafs“, die Planungen für die Wiederaufnahme laufen bereits. Dafür haben wir die Zeit genutzt, unsere Präsenz in den Sozialen Medien zu erweitern, die Kommunikation hier in verschieden Gruppen zu fördern und so den interdisziplinären Austausch zu unterstützen.

Das International Orthodontic Symposium (IOS) findet im November zum 23. Mal statt – eine Erfolgsgeschichte. Letztes Jahr musste auch diese Veranstaltung – Sie sprachen es eben an – wegen der Pandemie pausieren. Was ist zum Re-Start nach der Corona-Pause geplant?

Raiman: Ja, jedenfalls nach heutigem Stand werden wir am letzten Novemberwochenende traditionell zum IOS nach Prag einladen können. Und wir haben ein Thema gewählt, das eigentlich jeden Kieferorthopäden und jede Kieferorthopädin betrifft: die Digitale Zukunft unseres Berufsstandes. Unter der Headline „Digital Workflow – effective or fancy“ betrachten wir die Digitalisierung in wirklich allen Bereichen der Kieferorthopädie. Vieles werden wir neu lernen, vielleicht auch neu denken müssen. Am Ende aber sollte die Digitalisierung in der KFO vor allem die Diagnostik noch genauer machen, die Praxisabläufe effizienter und die Behandlung erfolgreicher.

Natürlich landen wir hier bei der Aligner-Behandlung. Und natürlich ist das eine Therapiemöglichkeit, die heute schon State of the Art ist. Und ebenso natürlich gehört diese Therapieentscheidung in die Hände von Medizinern, nicht in die eines gewerblichen Anbieters. Das Wissen um die Funktion ist – auch hier – von ganz elementarer Bedeutung. Das gehört in die Praxis, dieses Wissen können nur Mediziner bieten. Das gleiche gilt dann übrigens für die Behandlungsplanung – auch hier muss das Know-how von Seiten des Behandlers kommen, der sich nicht zurücklehnen darf nach dem Motto: Die Software wird das schon richtig rechnen.

Je mehr Wissen in der eigenen Praxis vorhanden ist, desto mehr Wertschöpfung bleibt auch in der eigenen Praxis. Unser Ziel kann nicht sein, mit „Billigbehandlungen“ den gewerblichen Anbietern Konkurrenz zu machen – es muss unser Ziel sein, unser Know-how in den Fokus zu stellen und so eine medizinisch fundierte Therapieentscheidung gemeinsam mit dem Patienten zu treffen. Zu all diesen Themen haben wir wirklich TOP-Speaker gewinnen können. Ich freue mich schon heute auf dieses Treffen in Prag – und darauf, den Winterschlaf zu beenden.

Erlauben Sie uns zum Abschluss einen gemeinsamen Blick in die Glaskugel: Was werden Ihrer Meinung nach die bedeutendsten Meilensteine moderner Kieferorthopädie sein? Wohin wird sich die Kieferorthopädie als Fach entwickeln?

Raiman: Ich habe das eben schon angedeutet: Für mich ist ganz klar, dass sich die Aligner als dritte Säule – neben den herausnehmbaren und den festsitzenden Apparaturen – etablieren werden. Und deshalb müssen wir die Alignerbehandlung ernst nehmen. Damit meine ich nicht nur, dass Aligner als Behandlungsoption in jede zukunftsorientierte Praxis gehören – wir müssen hier viel früher ansetzen. Die Alignertherapie muss nach meinem Dafürhalten bereits Teil der universitären Ausbildung sein. Die jungen Kolleginnen und Kollegen müssen Behandlungsplanung mit Alignern bereits in der Basis kennenlernen – ebenso natürlich wie sie das gesamte Wissen um Funktion und Kräfteverhältnisse erlernen müssen. Wer dieses Know-how früh erwirbt, kommt gar nicht erst in die Versuchung, eine Behandlungsplanung an den Kollegen Computer abzugeben.

Und ich bin davon überzeugt, dass wir die Alignerbehandlung noch weiterdenken müssen, auch interdisziplinär. Wie schalte ich welche Therapien wofür am besten in Kombination. Herausnehmbar, festsitzend, Miniimplantate, Aligner. Die Kieferorthopädie ist heute um so viele Möglichkeiten reicher als noch vor 20 Jahren – es wird eine Aufgabe der näheren Zukunft sein, diese Möglichkeiten bestmöglich zu kombinieren, um den für den Patienten bestmöglichen Erfolg zu erzielen. Und dies schaffen wir mit „Learning by doing“.

Um es ganz klar zu sagen: Der Alignertherapie in Kombination mit anderen modernen Therapiemitteln gehört die Zukunft in der Kieferorthopädie. Wir müssen uns nicht gegen neue Technologien wehren – sondern dagegen, dass wir unsere Entscheidungen abgeben. Das liegt allein in unseren Händen. Kieferorthopädie ist kein Drogerieprodukt – und darf es auch niemals werden.


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Dr. Jan V. Raiman