Auf ein Wort mit … PD Dr. Dr. ­Christian Kirschneck und Prof. Dr. Christopher J. Lux

An der ersten deutschen Leitlinie im Bereich Kieferorthopädie waren neben zahlreichen wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Verbänden auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen und -initiativen (BGAP) beteiligt.
Dr. Jan H. Koch befragte die beiden Koordinatoren der S3-Leitlinie, Prof. Dr. Christopher J. Lux (Universität Heidelberg) und PD Dr. Dr. Christian Kirschneck (Universität Regensburg) zur Bedeutung des erstmals im Dezember 2021 vorgestellten Dokuments.

 

Für schnelle Leser

› Die S3-Leitlinie zum optimalen Behandlungszeitpunkt ist die erste deutsche Leitlinie in der Kieferorthopädie.

› Sie ist sowohl evidenz- als auch konsensbasiert, wurde also von zahlreichen Beteiligten einschließlich Patientenorganisationen gebilligt.

› Die Auswahl der Studien erfolgte auf der Basis international anerkannter Regelwerke.

› Die Statements der Leitlinie zeigen einen Nutzen kiefer­orthopädischer Maßnahmen unter anderem in Bezug auf Funktion, Atmung, Ästhetik und mund­bezogene Lebensqualität.

› Indizierte Frühbehandlungen haben im Vergleich zu später einsetzenden Behandlungen einen dokumentierten Nutzen.

› Nicht durchgeführte Früh­behandlungen können in der Folge befund­abhängig die Morbidität und Erkrankungsschwere erhöhen.

 

Interdisziplinäre Leitlinie für KfO und Funktion

Was sind die wichtigsten Ergebnisse der Leitlinie und wie steht es um das Evidenzniveau und die entsprechende Relevanz der Empfehlungen?

Prof. Dr. Christopher J. Lux: Als S3-Leitlinie beruht sie einerseits auf einer systematischen Erfassung der aktuell verfügbaren Studien, ist also evidenzbasiert. Hinzu kommt, dass jedes Statement und jede Emp­fehlung von vielen Fachgesellschaften und Organisationen bestätigt und sie damit einen breit aufgestellten Konsentierungsprozess durchlaufen mussten (kon­sensus­basiert). Zu Recht gilt daher eine S3-Leitlinie grundsätzlich als am besten geeignet, wissenschaftlich verfügbares Wissen über Nutzen und Schaden von diagnostischen und therapeutischen Interventionen in Handlungsempfehlungen zu übersetzen. Diese Leit­-li­nien sind ein integraler Bestandteil der klinischen Medizin und damit auch der klinischen Kieferorthopädie. Sie zeigen aber nur Hand­lungskorridore auf und gefährden nicht die individuelle Entscheidungsfindung.

„Es geht nicht um die Zahl, sondernum die Qualität der Studien“

PD Dr. Dr. Christian Kirschneck: In der vorliegenden Leitlinie wurden – unter Überwachung durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die hier die methodischen Standards vorgibt – für Statements und Empfehlungen nur Studien eingeschlos­sen, die nach SIGN, AXIS und AMSTAR II eine hohe oder annehmbare Qualität aufweisen (Details dazu siehe Leitlinie, Anm. d. Redaktion). Diese international anerkannten Erfassungsinstrumente stellen sicher, dass die Studien nur ein geringes oder moderates Risiko besitzen, dass die Ergebnisse in systematischer Weise verzerrt sind. Die Qualitätsstandards sind sehr wichtig, da es in der Summe nicht um die Anzahl, sondern um die Qualität der ein­bezogenen Studien geht. Hier zeigt sich deutlich, dass in der Kieferorthopädie sehr wohl viele hochwertige Studien verfügbar sind, auch wenn es – wie in der übrigen Medizin – immer Themen mit stärkerer und schwächerer Evidenz gibt. Eine Leit­linie ist nun in besonderer Weise geeignet, diese Evidenz für den Praktiker zu heben, indem sie die systematische Literatur­recherche mit klinischen Handlungsempfehlungen verknüpft und zusätzlich im Sinne der wissenschaftlichen Transparenz die Stärke der Evidenz und des Konsensus mit angibt.

Lux: Die Leitlinie zeigt klar auf, dass die Kieferorthopädie einerseits ein präventiv ausgerichtetes Fach im Hinblick auf Morphologie, Funktion und dentofaziale Entwicklungsprozesse ist. Therapeutisch ist es auf verschiedenen Ebenen wirksam, unter anderem bei der Verbesserung von Atmung und dentofazialer Ästhetik und bei der Überwachung und Korrektur dentaler und skelettaler Störungen der Gebissentwicklung. So wird beispielsweise ein positiver Effekt kieferorthopädischer Maßnahmen auf die oropharyngealen Dimensionen bei wachsenden Patienten mit Unterkieferrücklage aufgezeigt. Bei bestimmten Patientengruppen kann das Risiko für ein Frontzahntrauma gesenkt und auch die mundgesundheitsbezogene Lebensqualität verbessert werden.

„Der Leidensdruck der Kinder kann sehr groß sein“

Letzteres klingt abstrakt, jedoch kann bei bestimmten Zahnstellungsanomalien mit stark vorstehenden Frontzähnen der Leidens­druck für die Kinder durch Hänseln sehr groß sein. Auch konnte die Leitlinie aufzeigen, dass zum Beispiel Patienten mit vorverlagertem Unterkiefer oder rückver­lager­tem Oberkiefer (progener Formenkreis), von einer früher einsetzenden The­rapie profitieren. Eine Reihe von Fällen in dieser Anoma­liegruppe, die ansonsten zu kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Fällen werden würden, lässt sich durch einen geeigneten frühen Behandlungszeitpunkt noch konservativ behandeln. Dies soll nicht den sehr positiven Effekt schmälern, der sich bei bestimmten Fällen durch kombinierte chirurgische Behandlungen erzielen lässt, jedoch ist nach wie vor die beste Operation diejenige, die am Ende des Wachstums nicht benötigt wird.

Ist die Leitlinie auch für Kollegen bedeutsam, die nicht auf Kieferorthopädie spezialisiert sind?

Kirschneck: Ja, ganz sicher. Die Leitlinie richtet sich an alle Disziplinen, die in der interdisziplinären Behandlung von Fehlverzahnungen (Malokklusionen) und Dysgnathien sowie funktionellen Störungen des stomatognathen Systems beteiligt sind. Hier sind neben allgemein praktizierenden Zahnärzten und Zahnärztinnen alle in anderen Bereichen spezialisierten Kollegen, aber auch Pädiater, HNO-Ärzte, Psychologen, Psychiater und Logopäden angesprochen. Die Ergebnisse sind auch für diese Gruppen höchst relevant: Es gibt keinen allgemein gültigen Behandlungszeitpunkt, jedoch eine Art erste Richtschnur für die klinisch tätigen Kollegen und Kolleginnen. In der vorliegenden S3-Leitlinie ermöglichen die ausführlichen Hintergrundtexte zudem eine Einordnung in den klinischen und wissenschaftlichen Kontext.

Das KfO-Modul der Deutschen Mund­gesund­heits-Studie (DMS) VI hat ergeben, dass mehr als 50 Prozent aller Kinder mit einer Indikation für Früh­behandlung nicht nach dem Empfehlungen der S3-Leitlinie behandelt werden. Ist dadurch bei älteren Kindern und Jugendlichen eine erhöhte Morbidität und Erkrankungsschwere zu erwarten?

Lux: Manche Anomalien erfordern einfach ein frühzeitigeres Vorgehen. Hier sind neben dem bereits erwähnten progenen Formenkreis gegebenenfalls auch Patienten mit stark vergrößerter Frontzahnstu­fe oder seitlichen Kreuzbissen zu nen­nen. Bei der Entscheidung, ob eine Behandlung früher oder später beginnt, sind aber auch patien­ten­individuelle Faktoren wichtig, die in der Leitlinie aufgezeigt werden. Hatte ein Kind beispielsweise bereits in der Vergangenheit ein Frontzahntrauma, sollte besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, die Frontzahnstufe frühzeitig kieferorthopädisch zu reduzieren und einen kompetenten Lippenschluss einzustellen. Ziel ist dabei, mög­lichen weiteren traumatischen Schädigungen zuvorzukommen. Die Leitlinie soll also klinisch das Bewusstsein schärfen, dass in manchen Fällen ein frühzeitigeres Eingreifen den Therapieaufwand insgesamt reduziert und ein verbessertes Behandlungs­ergebnis zu erwarten ist.
Kirschneck: Die S3-Leitlinie hat gezeigt, dass Patienten mit bestimmten kieferorthopä­dischen Anomalien besonders von einer Frühbehandlung profitieren (vgl. Statement 7, Seite 36). Die Ergebnisse der DMS VI be­le­gen ande­rerseits in der Tat, dass basierend auf dem aktuell in Deutschland geltenden KIG-System für die Indikation einer Frühbehandlung ein erhöhter Bedarf für frühzeit­ige kieferorthopädische Behandlungsmaßnah­men besteht. Es ist daher davon auszugehen, dass tatsächlich in vielen Fällen eine er­höh­te Morbidität und Erkrankungs­schwe­re aus einer unterbliebenen Frühbehandlung resultieren können. Die Ergebnisse der S3-Leitlinie haben gezeigt, dass eine kieferorthopädische Regel- und Spätbehandlung zwar ebenfalls effektiv in der Korrektur der meisten Anomalien ist, jedoch mit zunehmendem Alter die skelettal-kausale Wirkung der Therapie auf das Wachstum der Kiefer zurückgeht.

„Aus unterbliebenen Frühbehandlungen kann eine erhöhte Erkrankungsschwere resultieren“

Die erreichten Korrekturen basieren bei einem späteren Behandlungsbeginn dann zunehmend auf einer Wanderung der Zähne im Kieferknochen oder einer Kippung der Kauebene. Dies hat unklare oder negative Wirkungen auf die Langzeitstabilität und das neuromuskuläre Gleichgewicht im orofa­zialen Bereich. Ein später Behandlungsbeginn macht anomaliebezogen zwar einen Therapieerfolg nicht zunichte, kann aber langfristig mit mehr Komplikationen vergesellschaftet sein. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass eine erfolgreiche kieferorthopädische Frühbehandlung mit herausnehmbaren funktionskieferortho­pädischen Apparaturen eine ausreichen­­de Mitarbeit von Patientenseite erfordert. Das ist in der betreffenden Altersgruppe nicht immer gegeben. Der Erfolg der Frühbehandlung ist in diesen Fällen gefährdet, sodass trotz der Empfehlungen der S3-Leitlinie und des prinzipiellen Bedarfs anhand der DMS VI diese nicht bei allen Kindern realisierbar und sinnvoll erscheint.