Auf ein Wort mit Prof. Dr. Dr. Ralf J. Radlanski

„Warum Kieferorthopädie?“

An Prof. Dr. Dr. Ralf J. Radlanski kommt nicht vorbei, wer sich in den letzten drei Jahrzehnten mit Kieferorthopädie befasst hat: Er ist leidenschaftlich Anatom, Kieferorthopäde und Hochschullehrer, Direktor der Abteilung Orale Struktur- und Entwicklungsbiologie an der Charité, Präsident der EurAsian Association of Orthodontists (EAO) und Kongresspräsident des International Orthodontic Symposium IOS Prag. Er hatte Gastprofessuren an der University of California in San Francisco (USA), an der Universität Turku (Finnland) und an der Universität Basel (Schweiz). Er ist gefragter Referent internationaler Tagungen und Kongresse sowie Autor zahlreicher Bücher und Publikationen. Als Cellist ist er Mitglied im Berliner Ärzteorchester und im World Doctors Orchestra; darüber hinaus engagierte er sich über zehn Jahre als Präsident der Written Art Foundation.

Aktuell veröffentlichte Professor Radlanski auf seinem Youtube-Kanal eine Video-Reihe mit dem Titel „Warum Kieferorthopädie?“. Für ORTHOorofacial beantwortet er diese Frage – und noch einige mehr.

ORTHOorofacial: Lieber Herr Professor Radlanski, neben (Online-)Vorlesungen, Forschung und kieferorthopädischer Praxis legen Sie nun eine Video-Reihe zum Thema „Warum Kieferorthopädie?“ auf. Erlauben Sie uns die Frage: Warum? Und: Warum gerade jetzt?

Prof. Dr. Dr. Ralf J. Radlanski: Um zunächst das erste „Warum“ zu beantworten: Immer wieder, in zahlreichen Gesprächen und bei vielen Interviews, stelle ich fest, dass die Menschen noch immer viel zu wenig über Kieferorthopädie wissen. Man weiß ja nahezu alles darüber, was in beispielsweise in der Autowerkstatt oder beim Friseur passiert, wie Kleidung hergestellt wird, welche Beauty-Tipps gerade wichtig sind – aber warum wir uns mit unseren Zähnen beschäftigen sollen, warum ihre Funktion wichtig ist und wie die biologischen Zusammenhänge sind, darüber denken noch immer viel zu wenige nach.

Der aktuelle Anlass war, dass ich – nach dem „Kieferorthopäden-Bashing“ der vergangenen Jahre nun zahlreiche Patienten in der Praxis gesehen hatte, deren „Behandlung“ in Stores von Aligner-Start-ups fehlschlug. Kaum verwunderlich – ohne Bilder, ohne Röntgen. Wenn ich diesen Menschen erkläre, dass ich einen einzelnen Zahn nicht bewegen kann, ohne zu wissen, wie viel Knochen da drum rum ist – das leuchtet natürlich jedem Patienten ein. Wenn wir also unseren Patienten aufzeigen, warum wir was machen, sind sie auch gern bereit, Zeit, Geduld und Geld zu investieren. Mitzumachen, etwa wenn wir im Anschluss an eine mehrjährige Behandlung auf die Notwendigkeit der Retention verweisen. Wir müssen einfach mit den Menschen reden, sie aufklären und direkt ansprechen. Das wollte ich erreichen. Ich hätte auch ein weiteres Buch schreiben können – wollte nun aber einen anderen Weg wählen. Einen Weg, der mir erlaubt, auch neue Erkenntnisse aktuell zu transportieren.

 

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Das heißt, die Video-Reihe richtet sich an Interessierte, an Patienten – an wen konkret? Und – worüber genau sprechen Sie?

Prof. Radlanski: Richtig, eigentlich richten sich die Videos an jeden, der sich für seine Zähne und deren Funktion interessiert – darüber sprechen wir. Für die meisten Patienten steht zunächst ein „schönes Lächeln“ im Fokus, wenn sie über eine kieferorthopädische Behandlung nachdenken – für uns als Kieferorthopäden ist aber ja das funktionelle Zusammenspiel entscheidend. Das schöne Lächeln gibt´s am Ende sozusagen gratis dazu, wenn wir die Zähne physiologisch richtig aufgestellt haben, in Harmonie zum Kiefergelenk und zur Muskulatur.

Dennoch sind die Filme nicht als direkte Patientenaufklärung zu verstehen, sondern dazu, kieferorthopädisches Know-how in die Welt zu tragen. Deshalb würde ich mich auch freuen, wenn Kolleginnen und Kollegen die Videos nutzen wollen, um sie auf ihre Websites einzubinden oder in den sozialen Medien zu verbreiten, um so weiter über Sinn und Zweck der Kieferorthopädie aufzuklären. Die Filme befassen sich ja nicht mit Behandlungstechniken, sondern sie zeigen den medizinischen und biologischen Hintergrund auf. Warum was wichtig ist und wie was warum funktioniert. Es ist eigentlich eine Art „Sendung mit der Maus“ – für Erwachsene. Und weil Kieferorthopädie eine Weltsache ist, bieten wir alle Folgen auch in englischer Sprache an.

Die Video-Reihe beschäftigt sich in derzeit acht Folgen mit grundlegenden kieferorthopädischen Fragestellungen. Ist an eine Fortsetzung gedacht?

Prof. Radlanski: Aktuell beschreiben wir die Zusammenhänge von Zähnen, Kiefer, Gelenk und Muskulatur, beschäftigen uns mit dem Wachstum von Schädel und Gesicht, der Gebissentwicklung und den skelettalen Strukturen. Wir erklären Sinn und Zweck einer lebenslangen Retention – und ich erlaube mir einen Ausflug in die Musikermedizin. Aber natürlich sind da noch viele Fragen, die wir beantworten könnten: Bruxismus wäre hier ein Beispiel. Vielleicht vermissen auch die Kolleginnen und Kollegen bestimmte Kapitel – ich nehme gern Anregungen auf.

Apropos Musikermedizin: Gemeinsam mit Prof. Dr. Paul-Georg Jost-Brinkmann besetzen Sie sozusagen die zahnmedizinische Stimme im Team des Berliner Centrums für Musikermedizin (BCMM) – ein interdisziplinäres Netzwerk aus Experten der Phoniatrie, HNO- und Augenheilkunde, der Komplementärmedizin, der Psychologie, der Osteopathie, der Zahnmedizin und vielen weiteren wissenschaftlichen Disziplinen. Was genau passiert in der Musikermedizin? Und welche Rolle spielt die Kieferorthopädie in diesem interdisziplinären Konzert?

Prof. Radlanski: Es ist vielleicht nicht jedem klar, aber – professionelle Musiker müssen genauso fit sein und genauso leistungsfähig wie Hochleistungssportler. Ein ganzes Leben lang täglich Stunde um Stunde zu musizieren, erzeugt eine hohe körperliche Belastung – von der psychischen ganz abgesehen. Ein Musiker führt immer wieder dieselbe Bewegung aus, mit höchster Präzision – beim Mundblasinstrument zum Beispiel müssen dafür die Mundmuskulatur gesund sein und das Kiefergelenk funktionieren – und das muss so bleiben. Denn Mundblasmusikinstrumente können Zahnfehlstellungen auch verursachen, Vibrationen können das Gewebe schädigen. CMD spielt bei professionellen Geigern, Flötisten oder natürlich auch Sängern eine oft existenzielle Rolle. Kieferorthopädische und zahnärztliche Maßnahmen können die Spielfähigkeit wiederherstellen oder sichern. Es erfordert schon ein umfassendes Verständnis für die Musik und für Musiker, eine solche Behandlung durchzuführen und auf den Patienten Berufsmusiker eingehen zu können. Und eine gewisse Leidenschaft.

Herzlichen Dank, lieber Herr Professor Radlanski, für dieses spannende Gespräch.


Bildnachweis

Ralf J. Radlanski/Thomas Ecke