„Das Instrument gehört zum Körper des Musikers dazu“
Prof. Dr. Dr. Ralf J. Radlanski arbeitet, neben seinen zahlreichen Tätigkeiten zwischen Charité, Praxis, Hör- und Vortragssälen, als Präsident der Eurasian Association of Orthodontics (EAO) eng mit dem CMD-Dachverband zusammen. Als Musikerzahnmediziner bringt er sich – gemeinsam mit zahlreichen weiteren Kolleginnen und Kollegen, am Berliner Centrum für Musikermedizin (BCMM) ein. Selbst leidenschaftlicher Musiker, weiß er um die Herausforderungen, die jahrelanges Üben, Spielen und Singen für den menschlichen Körper bedeuten.
Lieber Herr Professor Radlanski, was genau in der Musikermedizin passiert, darüber haben wir ja bereits ausführlich gesprochen. Lassen Sie uns nun ein Schlaglicht auf das Kiefergelenk werfen. Bei welchen Musikern können welche (berufsbedingten) Beschwerden entstehen? Und wodurch?
Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Studien, die zeigen, dass bei Profimusikern berufsbedingt eine craniomandibuläre Dysfunktion auftreten kann. Mögliche Ursachen sind die Zwangshaltung beim Spielen des Instrumentes, damit überhaupt ein Ton herauskommt.
Denken Sie beispielsweise an das Horn – hier wird der Ton auch durch eine protrudierte Unterkieferposition gestaltet. Dies kann zur Belastung der Kiefergelenkstrukturen führen. Hier hilft auch, dass die Musiker lernen, mehr mental zu üben – also ohne ihr Instrument – um die tatsächliche körperliche Belastung zu reduzieren. Es geht vor allem und die Schonung des Kiefergelenks. Ein zerstörtes Kiefergelenk ist schwer oder kaum zu heilen.
Doch auch bei Sängerinnen und Sängern spielt das Kiefergelenk eine entscheidende Rolle bei der Berufsausübung: Die Bewegung des Unterkiefers muss störungsfrei möglich sein, das Kiefergelenk darf nicht knacken. Wir haben schon Musicalsänger gesehen, bei denen genau das zu einem sehr großen Problem geworden ist – deren Performance wird ja noch mit mehreren tausend Watt verstärkt übertragen. Bei Sängern muss die periorale und pharyngeale Muskulatur voll kontrolliert werden können, um die Klangfarbe zu gestalten und schließlich darf keine Zahnfehlstellung den Luftstrom bei den Dentallauten verfälschen.
Oder nehmen Sie die Streichinstrumente: Jede Geige, jede Bratsche wirkt, wenn sie seit der Kindheit zwischen Schulter und Kiefer eingeklemmt gehalten wird, als orthopädisches Gerät. Es ist bekannt, dass gerade bei dieser Berufsgruppe Asymmetrien nachweisbar sind. Es ist zu hoffen, dass diese Musiker damit zurechtkommen. Im Einzelfall kann man zumindest mit Physiotherapie und mit osteopathischen Behandlungen helfen. Aber diese besonderen Instrumente gehören zum Körper dieser Musiker dazu. Es ist unsere Aufgabe als Ärzte, dies zu berücksichtigen.
Letztlich kann jedes Musikinstrument zu Beschwerden führen. Cellisten haben zuweilen Probleme im M. trapezius auf der rechten Seite. Fagotte und große Klarinetten können sehr schwer sein und auf den Schultergürtel belastend wirken, gleiches gilt für die großen Blechblasinstrumente. Kontrabassisten haben durchaus oft Rückenbeschwerden. Hier hilft auch wieder Physiotherapie und Ausgleichsport ist eine nicht zu vernachlässigende Prophylaxemaßnahme!
Und wie sieht der interdisziplinäre Behandlungsansatz bei Ihnen in Berlin aus? Wer hält die Fäden der Behandlung in Händen, der Zahnmediziner, der Kieferorthopäde, der Orthopäde, Physiotherapeut … oder ..? Und warum? Wie kann die Abstimmung funktionieren?
Im Zentrum für Musikermedizin an der Charité gehen die Patienten zunächst zum Leiter des Zentrums, Herrn Professor Schmidt. Er ist Neurologe und Pianist. Nach einem ersten Untersuchungs- und Beratungstermin überweist er an die zuständigen Kolleginnen und Kollegen der jeweiligen Fachdisziplin. Es können auch mehrere Disziplinen zusammenarbeiten. Die Charité ist zwar sehr groß und weitläufig, aber per E-Mail und Telefon sind wir schnell und effektiv vernetzt und wir treffen uns regelmässig zu gemeinsamen Sitzungen – die finde ich immer sehr lehrreich.
Sprechen wir über Wünsche: Was würden Sie sich wünschen für die Musikerzahnmedizin? Und wo sehen Sie aktuell Hürden?
Eine Hürde ist durchaus die Tatsache, dass die allermeisten Musiker GKV-versichert sind, und dies die doch sehr intensive, spezielle musiker(zahn)medizinische Behandlung nicht abdeckt. Hierüber hatten wir schon an anderer Stelle gesprochen. Richtig schwierig wird es jedoch, wenn wirklich eine Berufsunfähigkeit aufgrund musikermedizinischer Beschwerden im Raum steht – und Anerkennungsverfahren gegenüber der (Musiker-)Rentenkassen laufen. Auch hierfür gibt es im BCMM Fachleute, die sich damit gut auskennen und wir sind auch mit anderen Zentren dieser Art in anderen Städten gut vernetzt.
Erlauben Sie uns am Ende noch einen thematischen Schwenk: Die Kultur musste während der letzten beiden Jahre lange schweigen – was gerade für musikalische Profis z.T. Existenzängste ausgelöst haben dürfte. Was kann die Musikerzahnmedizin bzgl. eines Stressmanagements leisten (Aufführungsstress / Lampenfieber)? Und inwieweit hat sich dieses Teilgebiet verändert durch die Pandemie?
Wenn man sich die Website der Mitglieder des Zentrums für Musikermedizin anschaut, dann fällt auf, dass die Psychiatrie als Fachgebiet relativ stark vertreten ist. Tatsächlich ist das Problem der Auftrittsangst hier ein Hauptforschungsgebiet. Darüber ist gerade kürzlich eine Buchpublikation erschienen: „Auftrittsängste bei Musikerinnen und Musikern“ (s. Kasten).
Zur Pandemie habe ich noch keine aktuellen Arbeiten gesehen – ich beobachte eher, dass wir froh sind, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, wieder in Präsenz proben und live spielen zu können. Endlich.
Vielen Dank, lieber Herr Professor Radlanski, für dieses spannende und sehr angenehme Gespräch!
Auftrittsängste bei
Musikerinnen und Musikern
Ein kognitiv-verhaltenstherapeutischer
Behandlungsleitfaden
ISBN: 978-3-8017-2988-2
2020 Hogrefe Verlag, Göttingen
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