Das Krankenhaus der Zukunft: 4 Szenarien

Eine Aufgabe des zukunftsinstituts ist es, Szenarien zu entwerfen zu strukturellen Entwicklungen wichtiger Bereiche unserer Gesellschaft. In Ausgabe 2/2020 skizzierten wir bereits vier Szenarien der Zukunftsforscher, wie eine Post-Covid-Gesellschaft aussehen könnte – und das zu einem Zeitpunkt, zu dem gerade der erste Lockdown ausgerufen war, Menschen auf Balkonen applaudierten, die Welt innehielt. Das scheint eine halbe Ewigkeit her zu sein. Retrospektiv betrachtet, behielten die Forscher in vielen Aspekten Recht – und das in teils erschreckender Klarheit.
Im aktuellen Health Report befasst sich Autorin Corinna Mühlhausen mit dem Kliniksystem der Zukunft. In vier Zukunftsbildern zeichnet sie nach, wie (und von wem) Krankenhäuser künftig genutzt werden und welche Rolle dabei das Personal einnimmt. Auch hierzu dürfen wir Ihnen Auszüge näherbringen.

Das Jahr 2020 hat die Probleme der Gesundheitssysteme rund um den Globus wie mit einem Brennglas hervorgehoben. Im Fokus der Aufmerksamkeit: Die Kliniken mit ihren Möglichkeiten, Patientinnen und Patienten, die sich mit dem SARS-CoV-2 Virus infiziert hatten, zu versorgen und gleichzeitig die gewohnte Gesundheitsversorgung für alle Bürgerinnen und Bürger (bestehend aus Notfallmedizin, ambulanten Untersuchungen sowie akuten und elektiven Operationen und der stationären Betreuung) aufrechtzuerhalten.

Viel wurde darüber berichtet, dass Betten- und Intensivkapazitäten nicht ausreichten oder nicht ausreichen könnten. Und wir alle mussten lernen, dass es nicht nur an Geld und Personal fehlt, sondern – aufgrund des Zeitdrucks, unter dem alle Mitarbeitenden in den Kliniken zu leiden haben – vor allem an Aufmerksamkeit mangelt, die dem einzelnen Patienten gezollt werden kann. Gleichzeitig zeigte sich, dass die Kliniken im deutschsprachigen Raum besser durch die Krise kamen als in anderen Regionen der Welt.

Mit Hilfe der Szenariotechnik wagen wir nun ein Gedankenexperiment: Wie können die Probleme in Zukunft gelöst werden? Welche Weichen müssen wir stellen, um die stationäre Versorgung künftig zu verbessern? Welche Megatrends treiben die Entwicklungen in den Kliniken an? Handelt es sich bei der Konnektivität wirklich um den Megatrend, der alle Probleme lösen wird? Oder brauchen wir nicht auch einen stärkeren Fokus auf Wohnortnähe und Nachhaltigkeit? Ist alles, was sich das Individuum wünscht, auch kompatibel zu den Bedürfnissen der Gemeinschaft? Zur Beantwortung dieser Fragen bedienen wir uns der Szenariotechnik. Unsere 4 Zukunftsbilder zeichnen ein neues Bild der Kliniklandschaft der kommenden Jahre.

Szenario 1: Smart Hospital
Mit High Tech gegen den Pflegenotstand

Diesem Szenario liegt die Grundannahme eines extrem hohen Digitalisierungsgrads gepaart mit einer stark globalisierten Welt zugrunde. Daraus resultiert auf Seiten der Patientinnen und Patienten ein sehr großes Vertrauen in alle Formen von Internet-Medizin und gesundheitliche Online-Beratung. Zudem ist die Alltagswelt voll digitalisiert. Eine Art Gesundheits-Facebook begleitet die Menschen durch ihren Tag, elektronisches Gesundheitstracking und E-Arztbesuche sind die erste Wahl. Gekauft wird so gut wie ausschließlich online mit einer Same-Day-Lieferung an den persönlichen Wunschort.

Die elektronische Patientenakte ist in der Hoheit des Einzelnen und jederzeit verfügbar. Vollautomatische und vereinfachte Patientendokumentation in allen gesundheitlichen Teilbereichen wird zur Selbstverständlichkeit (Smart Reporting). Ein hohes Involvement besteht in Bezug auf Weiterentwicklungen im Bereich des Smart Homes und vollvernetzten Klinikzimmers. Die 24/7-Überwachung von Körper, Geist und Seele ist Standard und versetzt die Patientinnen in die Lage, wesentlich früher in die eigene häusliche Umgebung zurückzukehren. Pharmazeutische Anwendungen auf Basis von Genotyping haben sich durchgesetzt, die Big Player im Krankenhausmarkt sind internationale Anbieter mit einem hochmodernen Markenimage.


 
Strukturproblem: Geldmangel
Stärkung der Patienten im Hinblick auf: Selbstwirksamkeit

 
Szenario 2: Living Clinic Community
Gemeinsam ganzheitlich gesunden

In diesem Szenario ist das Gesundheitssystem ähnlich vernetzt und globalisiert wie in Szenario 1. Der Unterschied besteht hier in der gegensätzlichen Ausprägung der Digitalisierung. In diesem Zukunftsbild gehen wir von der Annahme aus, dass es einen Backlash der Natur gegen die omnipräsente Digitalisierung gibt. Folglich fokussieren sich die Menschen auf eine Heilkunst zwischen Innovation und Tradition. Konkret wird dabei das alte Wissen des Heilens und verschiedener Heiler von TCM bis zur Medizin der Inka belebt und mit hochmodernen Wirkmechanismen kombiniert.

Grundsätzlich haben die Patientinnen in diesem Szenario ein großes Interesse an allen Gesundheitsthemen und dem intensiven Austausch mit anderen darüber; auch Innovationen und dem Fortschritt steht man offen gegenüber, jedoch ohne die eigene Natur und Herkunft zu verleugnen. Ärztinnen, Apotheker und Alternativmedizinerinnen sind gleichermaßen wichtige Vertraute – wenn sie es schaffen für Vertrauen und Transparenz zu sorgen. Besonders geschätzt wird die wohnortnahe Versorgung und der enge Austausch mit allen Pflegekräften und Medizinern. Gesucht werden Gesundheits-Anbieter, die sich zwischen Tradition und Moderne positionieren und den Online- wie Offline-Markt gleichermaßen bedienen.


 
Strukturproblem: Sektoren-Trennung
Stärkung der Patienten im Hinblick auf: Eigenverantwortung

 
Szenario 3: Slow Clinic
Entschleunigung für eine Beschleunigung der Gesundung

In diesem Zukunftsbild ist der Fokus auf die Themen Natur und Vorsorge ähnlich ausgeprägt oder sogar noch größer als im Szenario Nummer 2. Natur- und Alternativmedizin sowie alle komplementären Behandlungsoptionen genießen hier allerhöchstes Ansehen. Im Gegensatz zum Szenario der Living Clinic Community bauen die Patientinnen und Patienten hier aber auf das Wissen ihrer Mütter und Vorväter: Regionalität und individuelle Lösungen (auch im Präventionsbereich) stehen ganz oben. Der eigene Apotheker oder die langjährige Hausärztin sind die wichtigsten Vertrauten in allen medizinischen Fragen. Sie werden optimalerweise in die Behandlung im stationären Fall mit einbezogen bzw. unterhalten ihre Praxisräume auf dem Klinikgelände.


 

Strukturproblem: Zeitmangel
Stärkung der Patienten im Hinblick auf: Achtsamkeit


 

Ein gesundes Misstrauen begleitet jedwede Aktivität im Bereich der Internetmedizin oder gegenüber dem Self-Tracking-Trend. Echte Messwerte und persönliche Empfehlungen stehen ganz oben. Im Pharma-Segment genießen bekannte Hersteller, gerne aus der eigenen Region, vertraute Rezepturen und tradierte Markennamen größtes Ansehen. OTC-Medizin konzentriert sich in diesem Szenario auf das Thema Phytopharmaka, gleichzeitig gibt es ein Revival von Hausmitteln. Gekauft wird in jedem Fall beim ortsansässigen Anbieter. Und auch die lokale Klinik ist im besten Fall tief verwurzelt mit der Region.

Szenario 4: Me Clinic
Medizin wird maßgeschneidert und multimodal

Der hohe Stellenwert des Themas Individualität eint Szenario 3 und 4. Im direkten Gegensatz zum Zukunftsbild Smart Clinic organisieren die Menschen ihren Alltag hier aber rund um die digitalisierten Möglichkeiten. Das Internet ist ein wichtiger Ratgeber – allerdings mit einem starken Fokus auf lokale Netzwerke. Social Media entwickelt sich zu Local Media weiter. Empfehlungen, Verschreibungen und auch ein Teil der Untersuchungen werden auf elektronischem Weg von bekannten Ärzten und Apothekerinnen realisiert. Medizinerinnen aus dem niedergelassenen Bereich und das Krankenhaus kooperieren eng und niedrigschwellig. Terminvereinbarungen finden online statt, Konsultationen in einer Kombination aus on- und offline mit einem klar multimedial ausgerichteten Kommunikationsverhalten, das auch Messenger-Dienste und Videotelefonie selbstverständlich mit einbezieht.


 

Strukturproblem: Personalmangel
Stärkung der Patienten im Hinblick auf: Eigenoptimierung

 

Klinikmarken und auch pharmazeutische Angebote müssen in diesem Szenario hochmodern – gleichzeitig aber hochvertrauenswürdig anmuten, es besteht eine große Offenheit gegenüber Innovationen bereits bekannter Hersteller. Gekauft wird am liebsten online mit maßgeschneiderten just-in-time Lieferoptionen an einen Ort der eigenen Wahl. Besonders großes Interesse an der Me Clinic haben Berufspendlerinnen und nomadisch lebende Menschen, die keinen Hausarzt mehr haben oder selbiger nicht mehr vor Ort ist. Der Austausch mit ihr oder ihm ist genauso selbstverständlich möglich wie die Stärkung des Patientensouveräns.