Die Rolle des Physio­therapeuten bei CMD

Martina Sander, Physiotherapeutin

Die physiotherapeutische Untersuchung und Mitbehandlung des Kauorgans ist heute ein etablierter Standard der Diagnostik und Therapie craniomandibulärer Dysfunktion (CMD). Aufgrund der multifaktoriellen Ursachen sollte in den meisten Fällen ein interdisziplinäres Behandlungskonzept erfolgen, zwischen der zahnärztlichen, kieferorthopädischen und physiotherapeutischen Praxis.

Die Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) umfasst verschiedene Krankheitsbilder. Bei der physiotherapeutischen Behandlung stehen die Myopathie und die Gelenkfehlstellung im Behandlungsvordergrund. Eine Funktionserkrankung mit Schmerzen und/oder Funktionseinschränkungen kann erst unter muskulärer Dysfunktion entstehen. Die Indikation für eine konsiliarische Zusammenarbeit ergibt sich aus dem Ergebnis der zahnärztlichen klinischen Funktionsanalyse. Die daraus erstellten Diagnosen bilden anschließend die Grundlage für die physiotherapeutische Untersuchung und Behandlung.

Physiotherapeutische Untersuchung, Behandlung

Anamnese: Grundlage der physiotherapeutischen Untersuchung ist eine ausführliche Anamnese. Sie sollte umfassend sein und alle früheren Erkrankungen beinhalten, auch jenseits des Kauorgans. Im Anschluss erfolgt die physiotherapeutische Befunderhebung mit der Beurteilung von Gewebe, Haut, Muskulatur und Bewegungssegmenten der Wirbelsäule. Im Rahmen dieser Untersuchung wird der gesamte Bewegungsapparat erfasst. Liegt eine Bewegungseinschränkung der Bogengelenke eines Wirbelsäulensegments vor, kann die Ursache arthrogen sein. Bei positiven Befunden ist daher eine differenzierte segmentale Untersuchung der HWS erforderlich.

Das Ergebnis dieser Untersuchung ist eine Analyse der Bewegungseinschränkungen, die physiotherapeutische Behandlung wird daraufhin individuell auf dieses Ergebnis abgestimmt und eine physiotherapeutische Initialdiagnose gestellt. In der Physiotherapie hat sich die Befunddokumentation durch das Ankreuzen vorgegebener Befundoptionen bewährt. Hierfür wurde ein Befundbogen Physiotherapie entwickelt, der dieser Aufgabe gerecht wird und sich etabliert hat.


Martina Sander, Physiotherapeutin

1981 Staatsexamen Krankengymnastik,
1986 selbstständig in eigener Praxis, 1985 bis
1989 Ausbildung zur Manualtherapeutin nach Cyriax und Kaltenborn-Eventh-Konzept,
1988 Ausbildung zur Bobath-Therapeutin,
1988 bis 1990 Orafaziale Regulations-Therapie nach Castillo-Morales,
1997 bis 2000 Cranio-Sacrale-Osteopathie, 2007 Manualtherapeutische Diagnostik und Therapie bei Tinnitus, Schwindel und Kopfschmerz, 2012 Myofunktionelle Therapie.
Seit 1984 Mitarbeit in der Sprechstunde „Chronischer Gesichtsschmerz“, ZMK-Klinik UKE Hamburg, und im Arbeitskreis „Chronischer Gesichts- und Kiefergelenkschmerz“.
Leitung diverser Physiotherapie-Curricula bei CMD.
M.S@Physiotherapie-Sander.de


 

Physiotherapie

Physikalische Behandlung: Am Anfang der Physiotherapie steht die physikalische Therapie, hierzu gehören Wärmeanwendungen (Thermotherapie) und Kälteanwendungen (Kryotherapie). Die Wirkungsweisen sind analgesierend, tonusregulierend, resorptionsfördernd und steigern die Durchblutung der Muskulatur.

Die manualmedizinischen Behandlungstechniken teilen sich in mehrere Bereiche:

  • Weichteiltechniken/Weichteilmobilisation werden bei allen strukturellen Veränderungen der Muskulatur vorgenommen. Durch diese Techniken werden fibrosierte Muskelfasern gelöst, Tonuserhöhung beseitigt, Myofibrosen gelöst und eine Schmerzreduktion erreicht. Des Weiteren wird eine Detonisierung, Mobilität und motorische Kontrolle erreicht. Bei allen Initialdiagnosen „Myopathie“ kommen diese Techniken zur Anwendung. Bei der Myopathie der Kauhilfsmuskulatur wird eine funktionelle Mobilität und dynamische Stabilität erreicht.
  • Dehntechniken/Weichteilmobilisation: Muskelverkürzungen werden mit aktiven und passiven Techniken behandelt.
  • Isometrische Techniken: Muskeltonus regulieren bei gleichbleibender Muskellänge.
  • Bei der Arthropathie des Kiefergelenkes hat die Physiotherapie die Möglichkeit, durch manualtherapeutische Techniken auf das arthro-neuro-muskuläre System einzuwirken. Hierbei kann die Beweglichkeit zwischen den Gelenkflächen sowie die Beweglichkeit des Weichteilmantels des Gelenkes (Gelenkkapsel, Bänder und gelenkzugehörige Muskulatur) beeinflusst werden. Durch die Mobilisation (unter Traktion) wird eine Erweiterung des Gelenkraumes, Dehnung der Gelenkkapsel und Kaumuskulatur erreicht, sowie die Mobilisation einiger Ligamente.
  • Gelenktechniken: Die „Manuelle Therapie“ dient der Mobilisation der Kiefergelenke. Die manuellen Techniken wirken direkt im Gelenk über Traktion und Translation.
  • Die aktiven Übungsbehandlungen gelten als ein weiterer wichtiger Bestandteil der Therapie.

Die Dehnung des
M. masseter ver­bessert die Beweglichkeit und reguliert den Muskeltonus.

Für einen optimalen Behandlungsverlauf ist die frühzeitige Einbindung des Patienten in ein systematisches Übungsprogramm mit nachhaltiger Verhaltensänderung sehr wichtig.

  • Tape-Anlagen bei CMD: Die Basis der Tape-Anlagen wurde vor etwa 80 Jahren von
    Dr. Kenzo Kase entwickelt. Er baute die Kinesio-Tape-Methode auf. Diese wurde in den vergangenen Jahren weiterentwickelt, erweitert und ergänzt.

Das Tape bei CMD ist ein Konzept, was sich aus unterschiedlichen Tape-Konzepten zusammensetzt.

Tapes unterstützen den Heilungsprozess

Ein Tape nimmt Einfluss auf die Muskulatur, auf die Gelenke, auf den Schmerz und auf das Lymphsystem. Die Anwendungsbereiche reichen von Myopathie der Kau- und Kauhilfsmuskulatur, HWS-Syndrom, Arthropathie der Kiefergelenke, Hämatome, Lymphstau, allgemeinen Schmerzen am Gelenk bis hin zu schweren Funktionserkrankungen. Aber auch vor oder nach chirurgischen sowie auch oralchirurgischen Eingriffen kann eine physiotherapeutische Mitbehandlung den Operationserfolg günstig beeinflussen.

Die Auswahl der einzelnen Verfahren und Techniken hängt dabei von der individuellen Befundkombination sowie vom jeweiligen Behandlungskonzept ab. Weiterhin muss der jeweilige Ausbildungsstand des behandelnden Physiotherapeuten beachtet werden. Die Auswahl ist komplex, zumal für die verschiedenen Befundkombinationen unterschiedliche Behandlungstechniken etabliert sind.

Häusliches Übungsprogramm

Die „Manuelle Therapie“ zur Mobilisation der Kiefergelenke wirkt direkt über Traktion im Gelenk.

Es werden individuelle Übungen zum Erhalt der Beweglichkeit, zur Rezidivprophylaxe und zur Haltungskorrektur des Patienten erstellt. Das Ziel dieses Übungsprogrammes besteht darin, nach Ende einer Behandlungssitzung das erreichte Behandlungsergebnis bis zur nächsten Behandlung zu halten, wenn nicht sogar zu verbessern. HWS und Kopf stehen häufig in muskulärer Dysbalance; die hintere Muskulatur ist häufig verspannt und funktionell instabil, die vordere Muskulatur insuffizient. Für eine Funktionsverbesserung werden segmentale Stabilisationsübungen und Kräftigungsübungen für die vordere Muskulatur trainiert. Es soll eine schmerzfreie, symmetrische und muskulär stabilisierte Gelenkbewegung erreicht werden. Die neurophysiologische Grundlage dieser Korrektur besteht in der Anbahnung neuer Bewegungsmuster durch das wiederholte Üben auskorrigierter Bewegungen.

Das Übungsprogramm wird häufig mit Tape-Anlagen unterstützt.

Physiotherapeutische Mitbehandlung

Die Zusammenarbeit kann nur bei einer präzisen Übermittlung der zahnärztlichen Fragestellung beziehungsweise des Untersuchungs- und Behandlungsauftrags sowie des Ergebnisses der Behandlung vorhersehbar erfolgreich sein. Im Rahmen der fachlichen Weiterentwicklung gibt es heute einen „Verordnungsbogen Physiotherapie“. Dieses Formular ergänzt das zahnärztliche Rezept, wird zum Zeitpunkt der Untersuchungs- beziehungsweise Therapieanforderung ausgestellt und dem Patienten mitgegeben. Gleichzeitig dient es der Dokumentation der physiotherapeutischen Behandlung sowie der Abstimmung über deren Ergebnisse. Die Tape-Anlagen können vom Arzt verordnet werden, vor oder nach zahnärztlichen und oralchirurgischen Behandlungen.

Zusammenfassung

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Zahnarztpraxis und physiotherapeutischer Praxis kann nur dann erfolgreich sein, wenn ein enger, gegenseitiger Informationsfluss gewährleistet ist. Das Ziel der physiotherapeutischen Behandlung ist eine Detonisierung der Weichteile sowie eine Verbesserung der segmentalen und der funktionellen Mobilität der Kiefergelenke und der Halswirbelsäule – und damit eine Schmerzreduktion. Die motorische Kontrolle und eine bewusste Körperwahrnehmung (Haltungskorrektur) sollen wiederhergestellt werden, um die Gelenke zu stabilisieren und zu entlasten.


Bildnachweis ABO PHOTOGRAPRY S.R.O., Martina Sander, ©alexeg84 – stock.adobe.com