Gender Dentistry
Orale Medizin, individualisiert und geschlechterspezifisch betrachtet
Dass es ihn gibt, den „kleinen“ Unterschied – darüber zu diskutieren verbietet sich. Längst sind in der Humanmedizin biologische und physiologische Unterschiede geschlechts- und genderspezifisch erforscht, dokumentiert und akzeptiert. Die (daraus resultierende) Individualisierung der Therapie ist schon nicht mehr ganz so weit fortgeschritten. Und wie steht’s um den kleinen Unterschied in der Zahnmedizin?
Belegt ist, dass identische Krankheitsbilder zu unterschiedlichen Symptomen bei Männern und Frauen führen können, dass gleiche Wirkstoffe in Medikamenten unterschiedliche Wirkung entfalten. Wäre es dann nicht naheliegend, fast zwingend, auch die Therapien anzupassen? Und was hat all das mit Kieferorthopädie zu tun?
Im Jahr 2002 legte die WHO in ihrer Gender-Policy fest, dass der Differenzierung von Frauen und Männern durch Gesundheitsforschung und -politik höchste Aufmerksamkeit zu schenken ist [1]. Dem vorangegangen war eine zaghaft aufkommende Auseinandersetzung mit Genderfragen im Bereich der Medizin, beginnend in den 1990er Jahren. Seit 2006 ist die Gendermedizin in Deutschland im Institut für Geschlechterforschung in der Medizin (GIM) an der Humboldt- Universität in Berlin beheimatet, in Österreich findet medizinisch orientierte Geschlechterforschung an den Universitäten in Wien, Krems, Innsbruck und Graz statt. Grundsätzlich unterscheidet die Wissenschaft das biologische (Sex) vom sozialen Geschlecht (Gender). „Sex“ beschreibt also die physiologischen Unterschiede der Geschlechter, wie z.B. Hormone, Geschlechtsmerkmale, Chromosomen, während „Gender“ das geschlechterspezifische Wesen, erlernte (und damit auch veränderbare) Geschlechterrollen sowie -identitäten meint – also „typische weibliche / männliche Verhaltensweisen“ identifiziert. In beiden Fällen gibt es nicht immer eine eindeutige Zuordnung – wir sprechen dann von intersexuellen Menschen (biologisch nicht eindeutig zuordenbar) oder transsexuellen Menschen, die zwar rein körperlich eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind, sich jedoch „im falschen Körper“ fühlen und deshalb ein anderes soziales Geschlecht beanspruchen. Soweit zur Theorie.
Beides – Sex und Gender – beeinflusst unsere (Mund-)Gesundheit [2]. Ein Beispiel liefert die DMS IV (2006): Frauen ab 15 Jahren nutzen häufiger zahnärztliche Kontrollen als Männer und haben grundsätzlich eine bessere Mundhygiene – weisen jedoch generell eine höhere Kariesprävalenz auf und verlieren ihre Zähne früher und häufiger. Trotz dieses signifikanten Unterschieds ist über die Ursachen noch immer zu wenig bekannt.
„Es ist ein Manko, dass wir nach wie vor in der Zahnmedizin nicht alle Patientenstudien nach geschlechtersensiblen Gesichtspunkten systematisch auswerten“, sagt Prof. Dr. Margrit-Ann Geibel, Leiterin der Abteilung Genderspezific Dentistry an der Danube Private University/Krems sowie der dento-maxillofacialen Radiologie am Universitätsklinikum Ulm. In Ihrem Buch „Orale Medizin – Gender Dentistry [3]“ (siehe auch Buch-Tipp auf Seite 7) fordert sie Veränderung – und steht damit nicht allein. „Der Paradigmenwechsel weg von der bloßen Reparatur(zahn)medizin hin zur Oralen Medizin war längst überfällig, dies wurde nicht zuletzt durch das DGZMK-Positionspapier ‚Perspektive Zahnmedizin 2030“ verdeutlicht‘, so Prof. Dr. Roland Frankenberger, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde im Vorwort zu Geibels Buch. Eine zukunftsweisende Zahnmedizin müsse „primär wissenschaftsgeleitet und ebenso präventionsorientiert sein“, geschlechterspezifische Aspekte seien heute wichtiger denn je.
Eine aktuelle Studie (2022) des Department of Biomedical Surgical and Dental Sciences an der Mailänder Universität zeigt das Defizit klar auf: Unter dem Titel „Differentiating Gender and Sex in Dental Research: A Narrative Review“ geben die Autoren einen Überblick über das Vorkommen geschlechterspezifischer Unterschiede in dentalen Publikationen (Abb. 1) – ein trauriges Bild, auch in der Kieferorthopädie [5].
Dabei sind Unterschiede auch für die Kieferorthopädie relevant: So weisen Mädchen öfter ein Gummy-Smile auf sowie eine Fehlstellung nach Angle Kl III/1, Jungen häufiger Angle Kl III/2. Dass sich auch der Wachstumsprozess von Mädchen und Jungs unterscheidet, ist für die Kieferorthopädie ebenfalls von großer Bedeutung und wird in der Regel durch eine Handwurzelaufnahme dokumentiert: Bei Mädchen sind alle Wachstumsfugen der Hand (mit Ausnahme der Epiphysenfuge des distalen radius und Ulna) durchschnittlich im 14. Lebensjahr, bei den Jungs erst im 16. Lebensjahr komplett geschlossen [6].
Eine Forschungsgruppe der Uniklinik Köln zeigte in einer gemeinsamen Arbeit die Auswirkungen einer Östrogenbehandlung einer transsexuellen Person im Verlauf einer KFO-Behandlung auf. Die Forscher um Dr. Sven Scharf stellten deutliche Wurzelresorptionen an Front- und Seitenzähnen als Nebenwirkung eines durch therapeutische Anwendung erhöhten Östrogenspiegels dar. Sie empfehlen dringend eine regelmäßig aktualisierte allgemeinmedizinische Anamnese, um gegebenenfalls kurzfristig mit einer Modifikation der KFO-Behandlung reagieren zu können [7].
Weitere spannende Aspekte rund um die geschlechterspezifischen Unterschiede in der Zahnmedizin, insbesondere mit Blick auf Hormone sowie die CMD, finden Sie auf den weiteren Seiten dieses Themenschwerpunktes.