Gesundheitswelt 2049?

Bitte demokratisch!

Die „neue“ Bundesregierung hat die ersten 100 Tage im Amt hinter sich. Das gilt auch für Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU). Sie steht vor großen Herausforderungen gegenüber und soll dem deutschen Gesundheitssystem im besten Fall zu einem möglichst schnellen Aufwärtstrend verhelfen. Doch Veränderung braucht Zeit und viele Verbesserungen werden eine ganze Weile brauchen, bis sie sich fest etabliert haben. Die Baustellen von heute werden in Zukunft (hoffentlich) selbstverständlicher Bestandteil eines funktionalen Gesundheitssystems geworden sein. Was können wir für unser Gesundheitssystem in Zukunft erwarten? In unserer Reihe zum Thema Gesundheitswelt 2049 und dem Begriff Megatrends (gemäß einer aktuellen Studie des Zukunftsinstituts, im Auftrag der Roche Pharma AG) gehen wir diesen Fragen auf den Grund und analysieren die Potentiale eines politischen Paradigmenwechsels und die Wege, die
dorthin führen. Welche der Megatrends sind entscheidend und was steht hinter dem etwas sperrigen Begriff „Patientendemokratie“?

Individualisierung

Drei Megatrends sind zentral, wenn man das Gesundheitssystemen der Zukunft von politischer Seite betrachtet: Individualisierung, Gender Shift und Silver Society. Individualisierung ist in der
westlichen Welt einer der wichtigsten kulturellen Aspekte des persönlichen Selbstverständnisses und rückt die einzelne Person in den Fokus. Das bedeutet, dass das Individuum mehr individuelle Verantwortung für den eigenen Körper und die eigene Gesundheit trägt, denn wer selbst eine Entscheidung treffen kann und darf, ist entsprechend verpflichtet, dies auch zu tun. Kurz gesagt bedeutet Individualisierung das Vorhandensein vielfältigster Optionen, was gleichzeitig ein gewisses Konfliktpotential mit sich bringt, wenn andere Individuen oder die Gesellschaft gegenteilige Vorstellungen vertreten. Auch weisen Kritiker dieses Trends darauf hin, dass aus einer Individualisierung immer das Risiko einer Ellbogengesellschaft entstehen kann, in welcher egozentrische Wünsche zu Lasten von anderen Personen verfolgt werden. Die Kunst wird sein, eine gute Balance zwischen diesen Strömungen zu finden.

Betrachtet man den Trend Individualisierung noch detaillierter, stolpert man unweigerlich auch über den Trend Digitalisierung. In einer Patientendemokratie, in der das Individuum im Mittelpunkt steht, bietet Digitalisierung die Chance, durch mehr technologische Unterstützung eine bessere Betreuung während der Behandlung der einzelnen Patienten zu erreichen. Ein weiterer Vorteil kann außerdem sein, dass der Trend zur e-Health-Struktur die Möglichkeit schafft, Gesundheitskosten einzudämmen und gleichzeitig das Mitspracherecht und die Transparenz für Patientinnen und Patienten zu steigern. Dafür ist wiederum mehr Eigenverantwortung auf Patientenseite erforderlich. Die Forscherinnen und Forscher der Studie erwarten, dass das Vertrauen in eine einzelne ärztliche Person abnehmen, das Vertrauen in eine digitale Alternative zunehmen wird. Mit steigender Eigenverantwortung werden mehr Menschen Zweit- und Drittmeinungen einholen und sich auch mit zusätzlichen Daten absichern wollen. Mehr Digitalisierung kann die Menschen dabei unterstützen, mehr eigene Gesundheitskompetenz zu entwickeln. Ein zentraler Player in einer solchen Konstellation ist die Pharmaindustrie, die durch neue Behandlungsformen ihren Teil beitragen könnte. Man denkt hier vor allem an prädikative Tests, mit denen bereits vor dem eigentlichen Beginn der Behandlung der Therapieerfolg überprüft werden kann. Therapieabläufe und Medikamentierung werden dadurch deutlich individueller.

Silver Society

Aus Anti Aging wird Pro Aging! Eine derzeit niedrige Geburtenrate gepaart mit der höheren Lebenserwartung des Einzelnen führen uns in den nächsten Jahren kontinuierlich einer Silver Society entgegen. Ab dem Jahr 2040 wird vermutlich jede zehnte Person hochaltrig sein. Zum Vergleich: 1950 war es nur jede 100. Person. Interessant an dieser Verschiebung ist jedoch die Tatsache, dass zwar mehr Menschen in Jahren gerechnet älter sind, die individuelle Wahrnehmung des eigenen Alters davon jedoch stark abweicht. Wird die Gesellschaft mehr von fitten und selbstbestimmten älteren Menschen mitgestaltet, ändert sich dadurch das Verständnis dessen, ab wann man als „alt“ gilt. Vielleicht können wir uns auf eine Welt freuen, in welcher der gefühlte Zwang zur ewigen Jugend abnimmt und älteren Menschen mehr Respekt entgegengebracht wird und sie mehr gesellschaftliche Mitgestaltungsmöglichkeiten haben.

Was hat das mit Patientendemokratie zu tun?

Die alternde und zugleich individualisierte Person wird in medizinischen Fragen mehr Mitsprache und Selbstbestimmtheit erwarten und gleichzeitig höhere Anforderungen an die eigene Lebensqualität stellen – Ziel ist nicht mehr, ein möglichst hohes Lebensalter zu erreichen, sondern die qualitative Lebenszeit so erfüllt wie möglich zu verbringen. Damit einher geht der Wunsch nach mehr Selbstwirksamkeit und mehr ganzheitlicher Betreuung zum Beispiel durch Therapeuten oder Heilpraktiker, um langfristig Vitalität und Agilität erhalten zu können. Unser Gesundheitssystem muss sich in diese Richtung weiterentwickeln, denn das Bedürfnis nach Gesundheit und Wohlbefinden, Selbstverbesserung, Multioptionalität und Körperlichkeit wird in Zukunft zunehmen. Menschen sind bereit, mehr in ihre eigene Gesundheit zu investieren: Die Bereitschaft zur Zuzahlung und Inanspruchnahme von Selbstzahlerleistungen wird deutlich größer werden.

Gender Shift

Die stärkere Präsenz von Frauen in Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft hat entscheidend zum gesundheitlichen Verständnis der letzten Jahre beigetragen und die Grundlage des Gesundheitssystems richtungsweisend beeinflusst. Traditionell wird Frauen ein höheres Maß an Vor- und Fürsorgebereitschaft nachgesagt: Sie engagieren sich oftmals stärker als Männer. Auf gleicher Ebene mit der Gleichstellung der Geschlechter steht die Einbeziehung queerer Menschen. Für das Gesundheitssystem der Zukunft ließe sich daraus ableiten, dass es wesentlich diverser, kommunikativer und vielschichtiger sein wird und dass Geschlechterdifferenzen – auch hinsichtlich der Verteilung in Gesundheitsberufen – abnehmen werden. Schon heute schreiben sich jährlich mehr junge Frauen in das Medizinstudium ein. In der Zahnmedizin ist es sogar noch deutlich mehr: Hier gibt zurzeit schon rein weibliche Studienjahrgänge. Mehr weiblicher Einfluss wird mehr Selbst- und Mitbestimmung für die Gestaltung des eigenen Körpers mit sich bringen, für den wiederum jede Person individuell verantwortlich ist. Es drängt sich die Frage auf, inwiefern Krankheit dann als selbstverschuldet gesehen wird. In jedem Fall müssen Leistungsträger den Wandel aktiv und begleitend mitgestalten und auch in Zukunft ein wichtiger Ratgeber für veränderungswillige Patientinnen und Patienten sein.

Fazit

Gesundheit 2049 bedeutet Patientenautonomie, dem ein diverses Team an Spezialistinnen und Spezialisten auf dem kontinuierlichen Weg in die Silver Society zur Seite steht. Dafür müssen Personen eigenverantwortlich agieren, stets unterstützt von zielführenden digitalen Prozessen und dem Abbau von Hierarchien. Die stärkere Beteiligung von Frauen und diversen Gruppen wird diese Prozesse kommunikativ transparenter machen. Auf diese Weise erhalten die Menschen die Chance auf mehr Selbstwirksamkeit und das Gefühl, aktiv an der eigenen Gesunderhalten mitarbeiten zu können.