Häusliche Gewalt in der Pandemie

und die möglicherweise entscheidende Rolle der Zahnmediziner

Häusliche Gewalt ist auch zu „normalen“ Zeiten hoch prävalent – doch in Zeiten von Lockdown, Kurzarbeit und einer steigenden Zahl von Pleiten hat sie noch einmal eine besondere Relevanz. Finanzielle Sorgen, psychischer Stress, soziale Isolation und stark reduzierte Kontaktmöglichkeiten verdichten sich zunehmend, bereiten den Boden für Gewalt und Aggression. Verletzungen im Mundbereich sind hier nur eine mögliche Ausprägung – und manchmal ein Indiz.

Prof. Dr. Susan Garthus-Niegel, Dr. Julia Schellong, Lara Seefeld und Amera Mojahed, alle Universitätsklinikum bzw. Medizinische Fakultät der TU Dresden, haben sich in einer aktuellen Arbeit mit der häuslichen Gewalt im Kontext der COVID-19-Pandemie beschäftigt. „In der Tat deuten vorläufige Studien und Berichte auf Veränderungen bzgl. der Prävalenzen und des Ausmaßes der Verletzungen hin. In Deutschland implizieren die jüngsten Zahlen einen Rückgang der Fälle häuslicher Gewalt. Dieser Rückgang steht jedoch in deutlichem Gegensatz zur Schwere der beobachteten Verletzungen.“ Aktuell sei die Studienlage noch nicht sehr belastbar, weshalb der Rückgang eher vorsichtig zu interpretieren sei – zudem müsse von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden. Ein Indiz für die Unvollständigkeit des Zahlenmaterials sei beispielsweise, dass die gemeldeten Fälle häuslicher Gewalt in Großbritannien in der Zeit des ersten Lockdowns um 20 Prozent angestiegen sind, in Frankreich sogar um 30. und in den USA um 35 Prozent.

Unstrittig sei jedoch die Zunahme schwerer Verletzungen. So berichtete die Berliner Charité, dass nicht nur die Notrufe zugenommen hatten, sondern auch die Verletzungen der Opfer immer schwerer wurden. Eine Ausprägung: Verletzungen im Bereich des Mundes und der Zähne.

Hier kommt nun der Zahnarzt ins Spiel – denn während der Gang in die Notaufnahme (nicht nur während der Pandemie) nach Möglichkeit vermieden wird, um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, ist die zahnärztliche Praxis hier „unverdächtiger“. Das bedeutet: Dem Zahnarzt kommt eine womöglich entscheidende Rolle beim Aufdecken intrakranieller Verletzungen sowie dem Erkennen häuslicher Gewalt zu – zu diesem Schluss kam bereits 2019 eine Studie der Midwestern University, Phoenix [6]. Dieser Studie zufolge könnten Zahnärzte als eine Art Frühwarnsystem fungieren. Indizien für häusliche Gewalt seien Zahnrisse, Brüche und Absplitterungen sowie Verletzungen im Mundraum, die sich mit der Krankengeschichte des jeweiligen Patienten nicht vereinbaren lassen.

Anhand typischer dentoalveolärer Auffälligkeiten sei es möglich, Opfer leichter zu identifizieren, so die Autoren. Zu den klassischen, mit traumatischen Gehirnverletzungen im Rahmen häuslicher Gewalt assoziierten Verletzungen gehören demnach neben Frakturen des zygomaticoorbitalen Komplexes auch Nasenbeinfrakturen, Frakturen der Maxilla, Mandibula oder des dentoalveolären Bereichs. Für den Zahnarzt sichtbare Verletzungen sind vor allem Zahnfrakturen- oder Luxationen. Etwas subtilere Hinweise auf ein Trauma können zum Beispiel auch Pulpanekrosen und damit einhergehende Zahnverfärbungen, unerklärbare Malokklusion oder Weichgewebsverletzungen geben.

Zahnärzte seien bezüglich dieser Thematik jedoch nicht ausreichend geschult und wissen häufig nicht, wie sie bei einem Verdacht adäquat reagieren können, so die Autoren. Sie fordern deshalb eine Sensibilisierung und Integration dieses Themenbereichs bereits im Rahmen des Studiums.


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