Interdisziplinäre KFO bei Trisomie 21: das Castillo Morales®-Konzept im Fokus

Dr. Aneta Pecanov-Schröder, Bonn & Kathrin Schuldt, Hamburg

Kinder mit Trisomie 21 sind häufig von funktionellen orofazialen Störungen betroffen, die mit pathologischen Mund- und Zungenhaltungen einhergehen und Kau- und Schluckvorgänge, Atmung sowie die Artikulation negativ beeinflussen. Diese Kinder können von der ganzheitlichen Therapie nach Castillo Morales® (siehe Kasten „Castillo Morales-Konzept“), insbesondere den orofazialen Elementen profitieren. Das Konzept wurde in den 1970er Jahren entwickelt und findet auch in der S2k-Leitlinie „Down-Syndrom im Kindes- und Jugendalter“ [1] Beachtung und Empfehlung. „Ein zentraler Baustein des Therapiekonzepts ist eine Gaumenplatte mit Stimulationselementen für Zunge und Lippen, die eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Zahnärzten oder Kieferorthopäden erfordert“, betont Dr. Johannes Limbrock, Pädiater und erfahrener Castillo Morales®-Lehrtherapeut aus München/Weilheim. Im Interview berichtet der Mediziner von seinen langjährigen Erfahrungen und darüber, was ihn an die­sem Konzept begeistert.

Herr Dr. Limbrock, Sie unterstützen als Pädiater v.a. Patienten mit mundmotorischen Problemen wie Schluck- und Kaustörungen, Zungenprotrusion, Speichellaufen, Artikulationsstörungen sowie Biss- und Zahnanomalien mit therapeutischen Konzepten nach Pörnbacher (NEPA), Padovan, Bobath und Castillo Morales® sowie mit myofunktioneller Therapie. 

 

Was hat Sie zur Erweiterung des medizinischen Angebots inspiriert? 

Dr. Limbrock: Es gab tatsächlich ein Schlüsselerlebnis. 1981 betreute ich während meiner Zeit als Kinderarzt in einer Hamburger Klinik ein Mädchen mit aufsteigender Lähmung intensiv-medizinisch und erlebte, dass sich nach anschließender schwerer Körperbehinderung ihr Zustand unter Vojta-Therapie am Kinderzentrum der LMU München sehr verbesserte. Ich habe unbezahlten Urlaub genommen und dort auf Einladung von Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Theodor Hellbrügge ein halbes Jahr hospitiert. Prof. Hellbrügge hatte früh Neuland beschritten und sich zum Beispiel für die Frühförderung von Kindern mit Entwicklungsstörungen eingesetzt. Dort traf ich den Rehabilitationsmediziner Dr. Rodolfo Castillo Morales aus Argentinien, der ebenfalls bei ihm hospitierte. Da ich Spanisch konnte, habe ich seine Untersuchung über Kinder mit Trisomie 21 ins Deutsche übersetzt und anschließend haben wir diese gemeinsam publiziert. 

 

Was begeistert Sie an dem Ansatz?

Dr. Limbrock: Castillo Morales‘ ganzheitliches Konzept und der Fokus auf die menschliche Sichtweise behinderter Menschen haben mich sehr überzeugt. Im Mittelpunkt stehen der Einbezug der menschlichen Gesamtsicht des betroffenen Kindes, seiner Familie und Umgebung sowie seine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben; das hat mich damals beeindruckt und so ist es über die Jahre hinweg geblieben.

Diese Überzeugung hat dazu geführt, dass ich mit Castillo Morales viele Kurse für Interessierte organisiert und dabei für ihn übersetzt habe. Ein Schwerpunkt des Konzeptes ist die Mundmotorik, u.a. Schluck- und Kaustörungen, immer mit Einfluss der Körpermotorik auf den Mund. Daraus ist bei mir ein intensives Hobby entstanden – im Laufe der Jahrzehnte habe ich viele Mundmotorik-Sprechstunden in verschiedenen deutschen Kliniken betreut. Dr. Castillo Morales plädierte übrigens ebenso wie die Selbsthilfegruppen dafür, statt Down-Syndrom (englisch = abwärts) vom genetisch korrekten Begriff Trisomie 21 zu sprechen.

Erst seit 1997 wird das Konzept in einem Kurs von sechs Wochen gelehrt, verteilt auf zwei Jahre. Dadurch hat die Qualität der Therapeuten zugenommen, außerdem ist die Indikation zum zusätzlichen Gebrauch einer Gaumenplatte ausgereift: Sie wird sehr differenziert und gezielt für bestimmte Phasen der Therapie als Unterstützung genutzt. Sie sollte stets mit begleitender orofazialer Therapie bei Kindern mit Trisomie 21 eingesetzt werden.

 

Inwiefern profitieren Patienten mit Trisomie 21 vom Castillo Morales©-Konzept besonders, das sich vor allem auf neuromotorische Entwicklungs- und orofaziale Therapie stützt? 

Dr. Limbrock: Besondere Arbeitsschwerpunkte von Dr. Castillo Morales waren die Muskelhypotonie und insbesondere die Trisomie 21. Die typische hypotone Mund- und Zungenhaltung führt bei Kindern mit Trisomie 21 nämlich zu Sekundärproblemen, wie er in Verlaufsbeobachtungen gezeigt hat: Das sind Progenie und ein kleiner Oberkiefer mit einem schmalen und hohen Gaumen. Mit einer gezielten Frühbehandlung kann diese Entwicklung verhindert werden. 

 

Wie gelingt es nach Castillo Morales®, sensomotorische Störungen im Gesichts-, Mund- und Rachenbereich zu beseitigen oder zumindest zu verbessern? 

Dr. Limbrock: Die sensomotorischen Störungen im Gesichts-, Mund- und Rachenbereich werden durch eine ganzkörperliche und direkt orofaziale Frühbehandlung – mitunter unterstützt durch stimulierende Gaumenplatten – verbessert und die Sekundärpathologie meist verhindert. Das können inzwischen auch verschiedene Langzeitbeobach

tungen zum Thema bezeugen. So zeigte sich der Therapieansatz nach Castillo Morales® beispielsweise bei Kau- und Schluckstörungen im Rahmen einer Zerebralparese wirkungsvoll, bei der die Betroffenen motorische Störungen mit neurologischen Symptomen zeigen. Abnorme Bewegungsmuster der Artikulatoren (Lippen, Zunge, Wange, weicher Gaumen) während des Schluckvorgangs führen hier langfristig zu Dysgnathie und Parodontopathien. 

Verschiedene Studienergebnisse belegen, dass den betroffenen Kindern mit einer Therapie nach Castillo Morales® nachweislich geholfen und insbesondere mit Hilfe der stimulierenden Gaumenplatte eine Verbesserung der orofazialen Muskulatur erreicht wird. Die Platte soll stimulieren, daher wird sie mehrfach täglich lediglich für eine kurze Zeit, zum Beispiel drei- bis viermal am Tag für 30 Minuten getragen, nicht beim Essen oder Trinken.

 

Was genau bewirkt die Gaumenplatte?

Dr. Limbrock: Durch die Stimulationsplatte mit Reizelementen im hinteren Teil der Platte werden Bereiche des Zungenrückens (und bei Bedarf auch der Innenseite der Oberlippe) sensomotorischen Reizen ausgesetzt. Sobald der Zungenrücken in Kontakt mit den Elementen kommt, werden Schlucken und bei Seitstimulation auch Zungenlateralisation ausgelöst; auch die periorale Muskulatur reagiert meist und die Lippen schließen sich. Nach Therapieabschluss sind die Kinder in der Lage, die Lippen tagsüber zu schließen, die Zunge im Mund zu behalten und bilabiale Laute zu bilden. Auch die Speichelkontrolle kann deutlich verbessert werden, festere Nahrung aufgenommen und das Risiko für Aspirationen gesenkt werden. [2] Auch bei Kindern mit vielen anderen Entwicklungsstörungen hat sich die Therapie nach Castillo Morales® als erfolgreich erwiesen. 

Im Rahmen einer Studie zeigten Kinder im Alter von sechs bis 48 Monaten nach einer Kombination aus Sprach-, Sprechtherapie und dem Einsatz einer individuell angepassten Gaumenplatte mit der Zeit deutliche Verbesserungen der Okklusion, der Mundmotorik, des Gesichtsausdrucks und der Sprache. [3] In einer anderen Untersuchung trugen Kinder mit Trisomie 21 über zwei Monate viermal täglich für 20 bis 30 Minuten die stimulierende Gaumenplatte und absolvierten Übungen zur Verbesserung der orofazialen Situation. Im Ergebnis beobachteten die Forscher eine geringere linguale Protrusion und einen besseren bukkalen Schluss. [4] 

 

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Literaturhinweise_Pecanov-Schroeder_Schuldt

 


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