„Jeder macht, was er kann. Zum Wohle des Patienten.“

Eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Kieferorthopädie und Physiotherapie bietet großartige Behandlungsmöglichkeiten – und das nicht ausschließlich im Bereich der CMD. Je besser die Abstimmung aufeinander, desto größer die Erfolgsaussichten der Therapie – und desto gesünder und zufriedener der gemeinsame Patient. Wie aber erschafft man ein solches Netzwerk, das idealerweise Hand in Hand arbeitet? Wie viel Abstimmung ist nötig, welche Möglichkeiten entstehen?

Wir haben nachgefragt bei Dr. Jan V. Raiman, Fachzahnarzt für Kieferorthopädie in Hannover. Der Initiator der internationalen Kongressreihe IOS (International Orthodontic Symposium) und Präsident des CMD-Dachverbandes (CMDD) arbeitet seit Jahren mit dem Manualtherapeuten Ralf Kusch zusammen, der das Amt des Vizepräsidenten des CMDD bekleidet.  ORTHOorofacial gewann beide für ein Doppelinterview über gemeinsame Ziele, eine gemeinsame Sprache – und über das Geheimnis erfolgreicher Zusammenarbeit.

 

ORTHOorofacial. Lieber Herr Dr. Raiman, Sie sind Kieferorthopäde – und arbeiten „fest“, auch in unmittelbarer räumlicher Nähe, mit einem Physiotherapeuten zusammen. Wo liegt Ihrer Meinung nach der Vorteil – für beide Seiten? Für alle drei Seiten, beziehen wir den Patienten mit ein?

Dr. Jan V. Raiman: Natürlich gestaltet sich die Arbeit am gemeinsamen Patienten am leichtesten, wenn man die Behandler im Netzwerk gut und lange kennt, wenn man über viele Jahre verschiedenste Behandlungsansätze diskutiert und auch ausprobiert hat. Wenn der eine weiß, wie der andere „tickt“. Wenn man eine gemeinsame Sprache spricht und einander vertraut. Das alles macht den Praxisalltag leichter. Aber es kommt selbstverständlich auch vor, dass ich mit einem anderen Therapeuten zusammenarbeite – vielleicht, weil der Patient aus einem anderen Ort kommt. Dann ist es ganz essenziell, dass ich mit dem Behandler spreche – und zwar, bevor der Patient zu ihm kommt. Das rate ich übrigens auch Kolleginnen und Kollegen, die sich ein Netzwerk aufbauen möchten – nehmen Sie sich in jedem Fall die Zeit für ein ausführliches Telefonat mit dem Osteopathen oder Physiotherapeuten. Sprechen Sie ganz konkret an, was Ihnen wichtig ist, worauf Sie Wert legen – und, was noch wichtiger ist: Hören Sie gut zu.

 

Herr Kusch, hört Ihnen Dr. Raiman immer zu? Und mit welchen Fachdisziplinen arbeiten Sie noch zusammen?

Ralf Kusch: Tatsächlich brauchen wir inzwischen nicht mehr viele Worte, um zu wissen, wie wir dem Patienten am besten helfen können. Hier sind wir ein eingespieltes Team – nicht zuletzt natürlich auch aufgrund der vielen Kurse und Fortbildungen, die wir gemeinsam durchführen dürfen und in denen zahlreiche gemeinsame Konzepte entstanden sind. In über 30 Jahren als Manualtherapeut habe ich so meine Strategien entwickelt, sehr schnell eine gemeinsame Sprache zu finden. Wissen Sie, es ist sehr hinderlich, wenn man nicht genau weiß, was der andere tut. Das muss man so schnell wie möglich abstellen.

Ich habe ein sehr breit aufgestelltes, gut funktionierendes Netzwerk aufgebaut – mit Kieferorthopäden und Zahnärzten, mit HNO-Ärzten, Neurologen, Augenärzten, Kinderärzten und Orthopäden. Sie alle müssen zusammenarbeiten, wenn es um Störungen im stomatognathen System geht. Wenn es herauszufinden gilt, wo genau die Störung im Körper des Patienten ihren Ursprung hat. Und leider findet eine solche Ursachenforschung noch immer nicht selbstverständlich in jedem Fall statt.

Raiman: Das kann ich nur unterstreichen. Es ist essenziell, herauszufinden, ob eine fehlerhafte Okklusion die Ursache für Kopf- und Nackenschmerzen, für Rückenbeschwerden oder auch Probleme mit den Knie- oder Fußgelenken ist – oder ob es sich umgekehrt verhält. Ob ein (möglicherweise mit Einlagen behandelter) Beinlängenunterschied schlussendlich zu Beschwerden im Kopf- und Kieferbereich führt. Wir wissen längst um diese Zusammenhänge, zahlreiche Studien haben sich hiermit beschäftigt. Und trotzdem wird noch viel zu oft im eigenen „Bereich“ behandelt, anstatt den Patienten ganzheitlich zu begreifen.

 

Kommen wir zum praktischen Teil – wie läuft so eine interdisziplinäre Behandlung ab, wo kommt der Patient zuerst an?

Kusch: Das kommt ganz drauf an, wie sich die Beschwerden äußern. Bei Kiefergelenksbeschwerden geht der Patient zum Zahnarzt, bei Beschwerden in den Beingelenken zum Orthopäden. Und dann muss er das Glück haben, auf einen Behandler zu stoßen, der den Blick über die eigene Disziplin hinaus offenhält.

Raiman: Für mich steht am Anfang die Frage, liegt eine auf- oder absteigende Dominanz der Beschwerden vor, eben auf Ursachensuche zu gehen, von der ich eben schon sprach. In der Regel kommen die Patienten zu uns mit Schmerzen im Kiefergelenk. Hier gilt es abzuklären, ob es sich um ein entzündliches Krankheitsbild handelt oder nicht. Das ist immens wichtig abzuklären, bevor Sie den Patienten zum Manualtherapeuten überweisen. Handelt es sich um eine Entzündung des Kiefergelenks, behandeln wir zunächst passiv mit einer Schiene – und erst danach geht der Patient zum Therapeuten. Diagnostizieren wir eine nicht entzündliche CMD, ist es Aufgabe des Manualtherapeuten, den Patienten beim sanften Stretching verhärteter Muskeln am Kiefergelenk anzuleiten, die Gelenkkapsel sanft zu dehnen. Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Niemand kann die Schmerzgrenze so gut einschätzen wie der Patient selbst. Und an diese Schmerzgrenze gilt es, zu gehen, wenn die Therapie erfolgreich sein und eine Entzündung vermieden werden soll.

 

Eine Frage an Sie beide: Beobachten Sie eine Veränderung im Patientenaufkommen während der vergangenen drei Jahre?

Kusch: Ja, natürlich – die Zahl der Patientinnen und Patienten steigt stark an. Das ist auch ganz logisch erklärbar: Stress wird häufig im stomatognathen System abgebaut. Knirschen, Pressen, Nägelkauen – und von Stress und Ängsten hatten viele Patienten während der vergangenen drei Jahre wirklich reichlich. Dabei möchte ich unterstreichen: Nicht jeder gestresste Mensch entwickelt zwingend eine CMD, aber bei jedem CMD-Patienten spielt Stress im Krankheitsbild eine Rolle.

Raiman: Und es ist ja noch nicht vorbei. Gerade in den letzten Wochen und Monaten machen sich die Menschen immer mehr Sorgen – viele haben Angst vor dem anstehenden Winter. Wir müssen sehen, dass wir den Patienten hier Strategien an die Hand geben, anders mit Stress umzugehen.

 

Wie könnte das aussehen?

Raiman: Erlaubt ist hier alles, was hilft, das Stresslevel eigenständig zu senken. Das kann autogenes Training sein, Meditation, Tai-Chi – aber oftmals auch eine Veränderung ungünstiger
Angewohnheiten, wie z.B., die dauerhafte Erreichbarkeit.

 

Das hört sich nach Prävention an.

Kusch: Wenn wir schon über Prävention sprechen: Es wäre wichtig, sich der CMD wirklich präventiv zu nähern, in dem wir schon Kleinkinder sehen. Wenn Sie mich fragen, sollte im Rahmen der U-Untersuchungen ein Osteopath jedes Kleinkind zumindest einmal sehen. Hier kann früh eine sog. funktionelle präorthodontische Therapie stattfinden, um z.B. die Schädelknochen zu mobilisieren, die sonst das Zahnwachstum behindern könnten. Schon interuterine Fehllagen können später funktionelle Beschwerden verursachen. Augen, Kiefer und obere Halswirbelsäule entwickeln sich embrional zusammen – und hören auch nicht mehr auf, einander zu beeinflussen. Ich plädiere deshalb dafür, Kleinkinder osteopathisch zu screenen. Nicht, um die Kinder krank zu quatschen, sondern um später schmerzhafte Behandlungen zu vermeiden.

Raiman: Erlauben Sie mir einen kleinen Ausflug in den Sport. Erfolgreiche Leistungssportler leisten sich ein ganzes Team, das sie in Schuss hält. Das dafür sorgt, dass die Muskulatur ideal eingesetzt und nicht überlastet wird. So werden Verletzungen vermieden. Verletzt sich der Sportler am Ende doch muskulär, wird die „Schuld“ meist beim Physiotherapeuten gesucht. Er hat die Aufgabe, die Muskulatur optimal vorzubereiten. Um also den Bogen zu schlagen. Wenn wir zulassen, dass der Patient seine Kaumuskulatur überlastet, sich verletzt, dann liegt der Fehler bei uns. Wir müssen die Patienten lehren, die individuelle Belastung von Kiefergelenk und Kaumuskulatur in ein gesundes Maß zu bringen.

 

Braucht es also mehr Bewusstheit zum Thema Kiefergelenksbeschwerden?

Raiman: Ja, unbedingt. Zwar wissen inzwischen viele Menschen, was „CMD“ ist – es ist ja schon fast eine Modeerscheinung, CMD-Patient zu sein. Doch müssen wir erreichen, dass die vielen Ausprägungen ebenso wie die zahlreichen Ursachen von Erkrankungen rund um das Kiefergelenk noch viel mehr ins Bewusstsein geholt werden. Lassen Sie es mich vergleichen mit der Erfolgsgeschichte zur Kariesbekämpfung: Die Individualprophylaxe war noch vor 40 Jahren in Deutschland kaum ein Thema, von Professioneller Zahnreinigung wussten die wenigsten. Und heute? Machen Fernsehstars und -promis Werbung dafür, zur PZR zu gehen, nahezu jeder Erwachsene weiß um ihren Nutzen. Dabei ist es jedes Mal wieder ein unbeschreibliches Erlebnis, wenn der Patient zum ersten Mal die Entlastung einer angepassten, echten CMD-Schiene fühlt. Die Erleichterung steht den Patienten jedes Mal ins Gesicht geschrieben.

 

Was also muss passieren, dass künftig noch viel mehr Patienten ein solches Schmerz-Entlastungs-Erlebnis zu Teil wird?

Kusch: Interdisziplinäres Know-How. Die Lust, zusammen zu arbeiten. Gemeinsame Fortbildungen, und zwar mit allen Beteiligten. Orthopäden, Kinderärzte, Osteopathen, Physiotherapeuten, Kieferorthopäden, Zahnärzte. Veranstaltungen, bei denen Berührungsängste abgebaut werden und der gemeinsame Fokus – das Wohl des Patienten – im Mittelpunkt steht. Gesprächsrunden, die persönliche Beziehungen fördern und die gemeinsame Kommunikation, von der wir vorhin sprachen, ermöglichen. Perspektivisch können spezialisierte Schmerzzentren entstehen, in denen die Patienten kurze Wege haben und die bereits mehrfach genannten, beteiligten Fachdisziplinen eng zusammenarbeiten. Und wo jeder genau das tut, was er kann. Zum Wohle des Patienten.