Zahnärztliche und kieferorthopädische Aspekte der Schlafmedizin
Rund ein Drittel seines Lebens verbringt der Mensch schlafend. Das ist viel Zeit. Zeit, in der wichtige, überlebenswichtige physische und psychische Prozesse ablaufen. Komplexe Prozesse, die an vielen Stellen anfällig für Störungen sind, deren Diagnose und Behandlung ein umfassendes medizinisches Verständnis und ein interdisziplinäres Netzwerk erfordern. Der Versuch, sich dem menschlichen Schlaf in verschiedenen Facetten zu nähern.
(veröffentlicht in Ausgabe 1|2021)
von Prof. Dr. Bert Braumann und Dr. Tobias Klur, Poliklinik für Kieferorthopädie, Uniklinik Köln
Diagnostik
Schlafbezogene Atmungsstörungen und die damit verbundenen Beeinträchtigungen wie beispielsweise nichterholsamer Schlaf oder Tagesmüdigkeit können verschiedene Ursachen haben. Bereits das initial geführte Anamnesegespräch im Rahmen einer zahnärztlichen oder kieferorthopädischen Befundung kann Hinweise darauf geben. Bei der Befundung sollte der Größe der Zunge und der Adenoide Beachtung geschenkt werden. Eine Hypertrophie der Rachenmandeln oder der Zunge (Makroglossie) kann mit dem Vorliegen eines obstruktiven Schlafapnoesyndroms (OSAS) ebenso vergesellschaftet sein wie ein auffälliger Aufbau des Gesichtsschädels (Al-Jewair et al. 2016).
Kephalometrie
Das Volumen der oberen Atemwege kann durch das Vorliegen einer Retrognathie eines oder beider Kiefer bzw. einer transversalen Zahnbogenenge negativ beeinflusst werden. Die Verkleinerung des Volumens begünstigt die Entstehung schlafbezogener Atmungsstörungen (Maspero et al. 2015). Die kephalometrische Analyse von Fernröntgenseitenbildern erlaubt eine Beurteilung des sog. Posterior Airway Space (PAS). Dieser sollte eine Mindestgröße von 10 mm aufweisen. Werte, die darunterliegen, können Hinweise auf das Vorliegen eines OSAS geben (Battagel et al. 1998). Der beschriebene Luftraum kann auch iatrogen bedingt verkleinert sein, etwa durch die chirurgische Korrektur einer mandibulären Prognathie. Aus diesem Grund muss vor dysgnathiechirurgischen Eingriffen das Ausmaß der Verlagerungsstrecke und deren Einfluss auf den PAS evaluiert werden (Santagata et al. 2015).
Schlafbruxismus
Um zu beurteilen, ob ein/e Patient/in an nächtlichem Zähneknirschen bzw. -pressen leidet, sollten das Anamnesegespräch und die visuelle Untersuchung der Kaumuskulatur und intraoraler Strukturen im Vordergrund stehen. Oft imponieren bei den Betroffenen Zahnhartsubstanzverluste im Sinne von Abrasionen und/oder keilförmigen Defekten. Zu bedenken ist hier jedoch, dass auch der übermäßige Verzehr von stark faserhaltigen Speisen oder sog. Light-Produkten zu einer nicht altersgemäßen Abnutzung der Zahnhartsubstanzen führen kann. Durch Bruxismus verursachter Zahnhartsubstanzverlust stellt sich oft durch glänzende Schlifffacetten dar. Keilförmige Defekte können zwar mit nächtlichem Bruxismus assoziiert sein, jedoch können diese auch durch eine falsche Zahnputztechnik verursacht werden. Evtl. vorliegende Zungenimpressionen können auch Hinweise auf ein aktuelles Geschehen sein. Extraoral sollte den Mm. masseteres Beachtung geschenkt werden. Eine beidseitige Hypertrophie kann auf unbewusstes Pressen und Knirschen hindeuten. Im Anamnesegespräch wird nach morgendlichen Kopfschmerzen und generellen Verspannungen der Gesichts- und Nackenmuskulatur gefragt. Der bzw. die Partner/in sollte, wenn möglich, miteinbezogen werden. Zuverlässigere Methoden zur Diagnostik von Schlafbruxismus sind elektromyografische oder sogar polysomnografische Aufzeichnungen. Vor allem die Polysomnografie ist an dieser Stelle als besonders zuverlässig zu bewerten, jedoch sollte ein angebrachtes Kosten-Nutzen Verhältnis abgewogen werden.
Therapie
Unterkiefer-Protrusionsschienen
Intraorale Apparaturen, die den Unterkiefer bei Kieferschluss in eine anteriokaudale Position verlagern, werden in der Kieferorthopädie seit langem zur sagittalen Nachentwicklung der Mandibula während des Wachstums verwendet. Erste Publikationen, bei denen Modifikationen dieser Geräte als Unterkiefer-Protrusionsschienen (UKPS; auch mandibular advancement devices [MAD] oder mandibular repositioning devices [MRD]) zur Therapie von schlafbezogenen Atmungsstörungen verwendet werden, wurden in den 1980er Jahren veröffentlicht. Die Vorverlagerung des Unterkiefers beim Kieferschluss bewirkt ein Offenhalten oder sogar eine Vergrößerung der oberen Atemwege bzw. des pharyngealen Raums. Das Zurücksinken des Unterkiefers und der Zunge wird mechanisch verhindert und damit eine Obstruktion der oberen Atemwege (Rodriguez-Lozano et al. 2008).
Generell lassen sich zwei verschiedene Arten von Unterkiefer-Protrusionsschienen unterscheiden: Konfektionierte und individuelle Apparaturen: Die konfektionierten Schienen sind meist einteilige Apparaturen, die den Unterkiefer in eine frontale Kopfbissstellung vorverlagern.
Im Gegensatz dazu ist bei den individuellen Schienen nach Registrierung der protrudierten Unterkieferposition eine exakte Einstellung einer therapeutischen, metrisch definierten Unterkieferlage möglich.
Sowohl die Wirksamkeit als auch der Patientenkomfort und damit auch die Adhärenz überwiegen bei den individuell angefertigten UKPS (Gerlach und Sanner 2017).
Entscheidend für den Behandlungserfolg ist die relative Vorverlagerung des Unterkiefers zur Therapie des Schnarchens oder des OSAS mit einer UKPS. Eine zu gering gewählte Vorverlagerungsstrecke bringt oft nicht den gewünschten Therapieerfolg, während durch eine zu groß gewählte Distanz das Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen steigt (Fleury et al. 2004). Konfektionierte UKPS lassen sich in der sagittalen Dimension häufig nicht adäquat justieren. Auch der Tragekomfort ist weniger hoch. Zur Therapie von schlafbezogenen Atmungsstörungen sollte eine individuelle Apparatur immer einer konfektionierten bevorzugt werden. Voraussetzungen für den Einsatz einer UKPS sind ein kariesfreies und parodontal gesundes Gebiss sowie ein funktionell unauffälliges stomatognathes System. Unterstützt durch Verankerungen, wie z.B. Implantate, können auch zahnlose Kiefer mit UKPS versehen werden.
UKPS und obstruktive Schlafapnoe
Die Therapie der obstruktiven Schlafapnoe mit Unterkiefer-Protrusionsschienen konnte in einigen klinischen Studien als erfolgreich bewertet werden. Die Apparaturen sind in der Lage, die nächtlichen respiratorischen Störungen zu lindern und damit auch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Betroffenen (Epstein et al. 2009). Eine aktuelle Leitlinie bescheinigt der UKPS einen vergleichbaren Therapieerfolg hinsichtlich verschiedener Aspekte wie der Tagesschläfrigkeit oder der Lebensqualität, verglichen mit dem Goldstandard in der Therapie des OSAS, der CPAP (continuous positive airway pressure) Therapie (Gerlach und Sanner 2017).
Die Vorverlagerung des Unterkiefers während der initialen Therapiephase sollte mindestens 50 % des maximal möglichen Unterkiefervorschubs betragen. Die optimale Therapieposition kann ausgehend davon ermittelt werden (Gerlach und Sanner 2017). Dazu wird die Vorverlagerungsstrecke schrittweise erhöht, bis ein objektiv und subjektiv messbarer Therapieerfolg vorliegt. Die kontinuierliche Wirksamkeit sowie das Vorliegen unerwünschter Nebenwirkungen müssen in regelmäßigen Abständen nicht nur während der ärztlichen Kontrollen, sondern zusätzlich von einem schlafmedizinisch ausgebildeten Zahnarzt reevaluiert werden.
Mögliche Nebenwirkungen von Unterkiefer-Protrusionsschienen sind:
- Vorübergehende Missempfindungen der Zähne und der Muskulatur
- Verstärkter Speichelfluss
- Veränderungen der Bisslage und der Zahnstellung
- Kiefergelenkveränderungen
Bei ausgeprägten Formen des OSAS (Apnoe-Hypopnoe-Index [AHI] > 30) wird die alleinige Therapie mittels Unterkiefer-Protrusionsschienen nur dann empfohlen, wenn die CPAP-Therapie auch mit unterstützenden Maßnahmen durch den Betroffenen nicht toleriert wird bzw. die Überdrucktherapie nicht eingesetzt werden kann (Gerlach und Sanner 2017).
UKPS und Schnarchen
Die zur Therapie des Schnarchens (ohne OSAS) eingesetzten Unterkiefer-Protrusionsschienen unterscheiden sich nicht von denen, die zur Therapie der OSAS herangezogen werden. Aus Mangel an belastbaren Studien ist hier jedoch die wissenschaftliche Evidenz als deutlich geringer einzustufen (Stuck et al. 2019). Auch die Anwendungs- bzw. die Vorgehensweise gleicht dem der Schienen, die bei Vorliegen des obstruktiven Schlafapnoesyndroms angewandt werden.
Weitere intraorale Geräte
Nicht nur Unterkiefer-Protrusionsschienen werden im Rahmen der zahnärztlichen Schlafmedizin als Therapeutikum verwendet. So existieren verschiedene Überlegungen bzw. Ansätze hinsichtlich intraoraler Geräte, die schlafbezogene Atmungsstörungen lindern oder beseitigen sollen. So werden unter anderem Schienen verwendet, die an der Bezahnung des Oberkiefers befestigt sind und mittels mechanischer Hilfsmittel (federnde Pelotten) den Weichgaumen stabilisieren sollen (Tschopp et al. 2009). Ein anderer Ansatz ist die Fixierung der Zunge während des Schlafs mithilfe eines intraoralen Geräts, um ein Zurücksinken in den Rachenraum zu verhindern (Dort und Brant 2008).
Therapie des Schlafbruxismus
Der Goldstandard in der Therapie des Schlafbruxismus ist nach wie vor die Aufbissschienentherapie (Manfredini et al. 2015). Aus hartem Kunststoff angefertigte Apparaturen sollen den gesamten oberen oder unteren Zahnbogen bedecken. Fehlbelastungen einzelner Strukturen oder Zahnelongationen können durch gleichmäßige, punktförmige Okklusionskontakte vermieden werden. Die derzeitig vorliegende klinische Evidenz spricht jedoch nicht für den langfristigen Erfolg von Okklusionsschienen im Rahmen der Bruxismustherapie. Diverse Studien konnten zeigen, dass Aufbissschienen nur initial die nächtliche Muskelaktivität zu verringern vermögen (van der Zaag et al. 2005, Rehm et al. 2012). Auch die bimaxillären UKPS können zur Therapie angewandt werden (Manfredini et al. 2015).
Auch pharmakologische Ansätze haben sich innerhalb der letzten Jahre in klinischen Untersuchungen als vielversprechend erwiesen. Jedoch sind die meisten der vorliegenden Studien aufgrund der teilweise sehr kleinen Fallzahlen oder auch anderen qualitativen Einschränkungen nur bedingt aussagekräftig (Manfredini et al. 2015). In der Behandlung des Schlafbruxismus gewinnen verschiedene Biofeedback-Verfahren immer mehr an Bedeutung. So lässt sich z.B. die nächtliche Kaumuskelaktivität mittels Hautableitungen erfassen und sog. Contigent Electrical Stimulations (CES) werden als kaum spürbare elektrische Reizantwort auf die entsprechende Muskulatur übertragen. Auch hier gibt es verschiedene vielversprechende Ansätze, die die Knirschaktivität um bis zu 50 % senken konnten (Jadidi et al. 2013).
Bildnachweis
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Prof. Dr. Bert Braumann
Dr. Tobias Klur
Prof. Dr. Bert Braumann
1982 – 1987
Studium der Zahnmedizin
1988 – 1989
Wissenschaftlicher Assistent an der Klinik und Poliklinik für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie und Plastische Chirurgie der FSU Jena
1989 – 1991
Weiterbildungsassistent in freier kieferorthopädischer Praxis in Bonn
1991
Promotion zum Dr. med. auf dem Gebiet der Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie an der FSU Jena
1991 – 2003
Wissenschaftlicher Assistent in der Poliklinik für Kieferorthopädie an der Universität Bonn
1992
Fachzahnarzt für Kieferorthopädie
2003
Habilitation an der Universität Bonn
2003 – 2005
Kommissarischer Leiter der Poliklinik für Kieferorthopädie an der Universität zu Köln
seit 2005
Direktor der Poliklinik für Kieferorthopädie an der Universität zu Köln
Tätigkeitsschwerpunkte
Interdisziplinäre Behandlung von Patienten mit kranio- und orofazialen Fehlbildungen, Behandlung von Neugeborenen mit obstruktiver Schlafapnoe, dreidimensionale Analyse morphologischer Veränderungen, klinische und experimentelle Studien.
Dr. Tobias Klur
2008 – 2013
Studium der Zahnmedizin an der Universität Marburg
2014 – 2016
Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Zahnärztliche Prothetik der Universität Bonn
2015
Promotion
2016 – 2019
Weiterbildungsassistent in kieferorthopädischer Praxis in Kreuztal
2019
Ernennung zum Fachzahnarzt
für Kieferorthopädie
seit 2017
Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Poliklinik für Kieferorthopädie der Uniklinik Köln
2020
Ernennung zum Oberarzt an der Poliklinik für Kieferorthopädie der Uniklinik Köln