KFO im interdisziplinären Team: Dysgnathien und andere komplexe Fälle gemeinsam meistern
In der Sprechstunde der Poliklinik für Kieferorthopädie des Universitätklinikums Aachen unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. med. dent. Michael Wolf, M.Sc, stellen sich Patientinnen und Patienten des gesamten Behandlungsspektrums der Kieferorthopädie vor. Hierbei handelt es sich um eine Vielzahl von dentalen und skelettalen Anomalien, die u.a. mit funktionellen und ästhetischen Einschränkungen einhergehen. Um diese Patienten erfolgreich zu behandeln, ist eine enge Verzahnung mit der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie im Rahmen eines kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Konzepts erforderlich. Im interdisziplinär ausgerichteten Fachzentrum von Professor Wolf, der bis 2016 die interdisziplinäre Dysgnathiesprechstunde für komplexe Zahnfehlstellungen in der Uniklinik Bonn geleitet hat, ist die Zusammenarbeit mit Spezialisten anderer Fachdisziplinen wie Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Prothetik, Parodontologie, Logopädie oder Physiotherapie detailliert abgestimmt und unumgänglich. Welche Möglichkeiten sich dadurch für die Behandlung eröffnen und wie sich Kooperationen erfolgreich umsetzen lassen, erzählt Professor Wolf im nachfolgenden Gespräch.
Ein Interview mit Univ.-Prof. Dr. med. dent. Michael Wolf, M.Sc, von Dr. Aneta Pecanov-Schröder (Bonn) und Kathrin Schuldt (Hamburg)
Am Ende des Interviews finden Sie einen Patientenfall zur Veranschaulichung.
Herr Professor Wolf, allein letztes Jahr haben Sie mit Ihrem Team rund 60 komplexe kieferchirurgisch-kieferorthopädische Fälle in kombinierter Therapie versorgt. Bitte erlauben Sie unseren Leserinnen und Lesern einen Blick in die Klinikroutine, wenn Patientinnen und Patienten mit Nichtanlagen von Zähnen, Durchbruchsproblemen, funktionellen Beschwerden, aber auch skelettalen Veränderungen wie Progenie oder extremer Kieferrücklage, um nur einige Bespiele zu nennen, in Ihre Sprechstunde kommen.
Prof. Wolf: Komplexe Befunde erfordern komplexe Behandlungskonzepte. Und diese lassen sich nur mit eingespielten Kooperationen umsetzen. Wir Kolleginnen und Kollegen der Kieferorthopädie sind hier in Aachen hervorragend mit der Abteilung der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (Direktor: Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Frank Hölzle) eingespielt, mit der wir auch eine gemeinsame Sprechstunde anbieten und Patientinnen und Patienten gemeinsam beraten, später auch behandeln. So erhalten unsere Patientinnen und Patienten im Rahmen der interdisziplinären Betreuung von der Beratung an über vorbereitende kieferorthopädische Maßnahmen bis hin zu chirurgischen Eingriffen und der anschließenden Nachsorge alles aus einer Hand.
Auf diese Weise haben wir, wie Sie eingangs erwähnt haben, allein letztes Jahr mehr als 60 komplexe kieferchirurgisch-kieferorthopädische Fälle in kombinierter Therapie erfolgreich versorgt. Das gelingt natürlich auch in freier Praxis mit eingespielten Kooperationen, aber häufig kann nicht so viel Zeit eingeplant werden, mehrfach gemeinsam auf den Patienten zu schauen. Das ist meiner Erfahrung nach aber sehr wichtig und eine Stärke unserer Institution. Auch die Detailabstimmung kann sich herausfordernd gestalten. Auch, weil diese komplexen Fälle nicht so häufig auftreten. Die Uniklinik bietet hervorragende Voraussetzungen, sich mit anderen Fachdisziplinen unter einem Dach zu vernetzen. Ein eingespielter Behandlungsablauf im erfahrenen Team ist ein Vorteil, um stabile Behandlungsergebnisse zu erzielen. Als erfahrenes Fachzentrum nehmen wir daher auch Überweisungen von niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen der Kieferorthopädie an.
Wie hoch ist der Anteil der Behandlungsfälle in Ihrer Fachklinik, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich machen?
Prof. Wolf: Etwa 30 bis 40 Prozent der Behandlungsfälle machen eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich, wobei das Hauptspektrum bei kombinierter Kieferorthopädie-Kieferchirurgie liegt. Bei Nichtanlagen von Zähnen oder fehlenden Zähnen arbeiten wir auch häufig mit der Abteilung für Prothetik (Direktor: Prof. Dr. med. dent. Stefan Wolfart) zusammen. Etwa zwei Drittel der interdisziplinären Fälle unserer Klinik sind Überweisungen aus der Niederlassung.
Bleibt der enge fachliche und kollegiale Austausch über die gesamte Behandlung bestehen?
Prof. Wolf: Absolut, wir stehen über die gesamte Behandlung hinweg in engem Austausch, z.B. mit niedergelassenen Zahnärzten oder Parodontologen und betreuen die Patienten, zum Beispiel mit ausgeprägter parodontaler Insuffizienz, gemeinsam.
Gelegentlich ziehen wir auch Kolleginnen und Kollegen der Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde (HNO) und Schlafmedizin hinzu, wenn sich bei Patienten mit Obstruktiver Schlafapnoe eine Bisskorrektur als hilfreich erweist. Beim komplexen Bild der Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalte sind häufig neben der Kieferorthopädie mehrere Fachdisziplinen an der Behandlung beteiligt, z.B. HNO, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Prothetik und Logopädie. Zu den interdisziplinären Fällen gehören auch Behandlungen funktioneller oder orthopädischer Probleme, die beispielsweise in Verbindung mit Kiefergelenkproblemen oder ganzheitliche Beschwerden wie Nacken- und Kopfschmerzen.
Diese interdisziplinären Fälle sind wirklich sehr vielfältig, was die Arbeit für uns als Behandler oder Behandlerin sehr abwechslungsreich macht. Grundsätzlich hat die Kieferorthopädie eine große Aufgabe in der Prävention, daher ist es natürlich die Aufgabe, Fehlfunktionen zu erkennen, Dysfunktionen abzustellen und die Behandlung schon präventiv einzuleiten, bevor zum Beispiel ein offener Biss entsteht oder sich Sprachprobleme manifestieren. Das gelingt mit geschultem Wissen, so dass dann die entsprechende Behandlung im interdisziplinären Team eingeleitet werden kann, zum Beispiel die logopädische Therapie bei Patientinnen und Patienten mit LKG.
Unterscheidet sich bei interdisziplinären Fällen die Altersstruktur der Patientinnen und Patienten von denen mit rein kieferorthopädischem Fokus?
Prof. Wolf: Bei kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgischer Behandlung muss das Kieferwachstum abgeschlossen sein, daher können wir häufig hier erst mit dem 18. Lebensjahr beginnen. Grundsätzlich ist eine kieferorthopädische und auch kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgische Therapie in jedem Lebensalter möglich. Betrachtet man alle interdisziplinären Fälle unserer Klinik, dann ist das Alter sehr gemischt.
Kinder mit viszeralem Schluckmuster behandeln wir sehr früh präventiv, bevor ein offener Biss entsteht. Auch bei Nichtanlagen, ausgeprägtem Platzverlust (Engständen) oder Abweichungen der Kiefergrößen zueinander behandeln wir im Kindesalter und können so die weitere Entwicklung lenken – oder manchmal auch erst ermöglichen.
Zwei Mal monatlich bieten Sie in der Abteilung für Kieferorthopädie an der Uniklinik der RWTH Aachen eine gemeinsame Sprechstunde mit der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie für komplexe Fälle an. Bitte können Sie den Ablauf skizzieren, welche Schritte folgen auf diesen ersten Termin?
Prof. Wolf: In der interdisziplinären Sprechstunde schauen wir die Patientin oder den Patienten gemeinsam an, also Kolleginnen und Kollegen der Kieferorthopädie und Kieferchirurgie betrachten den Fall zunächst unter ästhetischen und funktionellen Gesichtspunkten gemeinsam und arbeiten auf Grundlage einer Routinediagnostik (Gibt es dentoalveoläre oder skelettale Abweichungen? Ist eine kombinierte Behandlung erforderlich?) einen individuellen Behandlungsplan aus.
Vor- und Nachteile der Behandlung besprechen wir jeweils im fachärztlichen Team zunächst allein und nachfolgend mit dem Patienten in einem gemeinsamen Termin und legen dann auch das weitere Prozedere fest: z.B. wie operiert werden soll, was dem Patienten besonders wichtig ist usw.
Außerdem prüfen wir genau, dass die geplante Behandlung abgestimmt ist und maximale Stabilitätskriterien erfüllt sind. Innerhalb des folgenden Jahres erhält der Patient dann eine kieferorthopädische Behandlung, um die Zahnbögen für die chirurgische Maßnahme exakt vorzubereiten.
In einem weiteren gemeinsamen Termin mit dem Patienten bereiten wir ihn im Team auf die geplante Operation vor und stimmen den OP-Termin ab. Am Tag der Operation erhält der Patient zudem Häkchen für Gummizüge an der festen Zahnspange, um die neue Kieferposition zueinander nach der Operation mithilfe von vertikalen Gummibändern weiter zu stabilisieren. Zu diesem Zeitpunkt ist die Okklusion des Patienten durch die kieferorthopädische Vorbereitung meist schon nahezu fertig eingestellt.
Wie geht es nach der Operation weiter?
Prof. Wolf: Nach der Operation bleibt der Patient drei bis fünf Tage im Krankenhaus und stellt sich am Entlassungstag noch einmal in der Kieferorthopädie vor. Nach einem gemeinsamen Termin mit den Chirurgen in der Folgewoche, sehen wir den Patienten drei Wochen lang wöchentlich, dann für zwei Monate alle 14 Tage, später alle vier bis fünf Wochen zur Kontrolle.
Nach der Operation sichern wir Kieferorthopäden im Grunde meist nur noch ein halbes Jahr die Okklusion. Damit auch die Kaumuskeln sich an die neue Kieferposition gewöhnen, empfehlen wir den Patienten spezielle Übungen, manchmal ist aber auch Physiotherapie nötig, die wir auch hausintern anbieten. Da die Situation direkt nach der OP häufig noch fragil ist, bekommen die
Patienten von uns auch eine Ernährungsempfehlung für weiche Kost für die ersten Wochen mit an die Hand.
Das klingt nach einem sehr eingespielten gemeinschaftlichen Ablauf, von dem Ihre Patientinnen und Patienten profitieren. Wie lange dauert es bis zum Abschluss eines komplexen kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Falls?
Prof. Wolf: In der Regel versuchen wir es in knapp zwei Jahren zu schaffen. Aufgrund unserer großen Erfahrung und der eingespielten Kooperation mit den kieferchirurgischen Kolleginnen und Kollegen können wir diese komplexen Behandlungen häufig recht schnell abschließen. Diese Fälle erfordern im Schnitt lediglich ein halbes Jahr länger als konventionelle kieferorthopädische Behandlungen ohne Operation.
Wie sieht die Nachsorge in fachübergreifenden Behandlungsfällen aus?
Prof. Wolf: Unser Nachsorge-Protokoll ist sehr stringent – aber der Erfolg gibt uns Recht: Wir haben bei unseren kombinierten Therapien kaum Rezidive. Wir übernehmen den Patienten direkt aus der OP und betreuen ihn die ersten Wochen engmaschig. Zu den ersten Kontrollterminen ziehen wir auch immer einen Kollegen aus der Kieferchirurgie hinzu, der beispielsweise die Wundheilung kontrolliert, ggf. Fäden zieht etc.
Später kontrollieren wir die neue Kieferstellung immer wieder und optimieren die Positionierung bei Bedarf. Ist die Therapie abgeschlossen, empfehlen wir den Patienten, sich im Jahresturnus bei uns zur Kontrolle vorzustellen.
Nach dem ersten Jahr post OP gibt es zudem die Gelegenheit zu besprechen, ob die eingesetzten Metallelemente wieder entfernt werden sollen. Besonders interessant ist für uns die Vorstellung nach fünf Jahren. Dann können wir sehen, welche langfristige Ergebnisqualität unsere Behandlung hat.
Viele Patienten tragen übrigens nicht nur Retainer, die das Behandlungsergebnis stabilisieren, sondern zusätzlich herausnehmbare Schienen. Wichtig ist in jedem Fall, dass der Zahnbogen in den Folgejahren der OP stabil bleibt und nicht kollabiert – sonst kann die eingestellte Okklusion verrutschen.
Welche Partner gehören fest zu Ihrem interdisziplinären Netzwerk?
Prof. Wolf: Die häufigsten Partner bei interdisziplinären Patientenfällen sind Kolleginnen und Kollegen aus der Klinik, aber wir arbeiten auch mit überweisenden Zahnärztinen und Zahnärzten und Kolleginnen und Kollegen der Implantologie und Parodontologie eng zusammen. Dann findet die Besprechung meist virtuell anhand von Daten und Bildern statt. Mitunter ist jedoch auch ein gemeinsamer Termin in unserer Klinik mit den Patienten hilfreich, z.B. vor einer Operation. Und hier kommt es übrigens auch vor, dass wir als Kieferorthopäden auch mal mit im OP bei den Kieferchirurgen stehen, z.B. bei schwierigen Fällen mit Freilegung von Eckzähnen oder bei Zahntransplantationen. Mit den kooperierenden Parodontologen stimmen wir uns aufgrund des sensiblen Arbeitsbereichs besonders engmaschig ab.
Wie gelingt die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen Ihrer Erfahrung nach am besten?
Prof. Wolf: Auf jeden Fall ist die Partnerwahl entscheidend: Man sollte sich fachlich versierte Kolleginnen und Kollegen suchen, mit denen man sich auch über den Fachkontext hinaus gut versteht und sich gegenseitig schätzt. Beide Partner sollten Lust auf die Herausforderung komplexer Fälle und dasselbe Interesse haben, die Therapie bestmöglich aufzustellen und sie bei Bedarf auch individuell weiterzuentwickeln. Die positive Energie, die von einem gemeinsamen Engagement ausgeht, überträgt sich auch auf das Team und letztlich auf die Patienten, die sich in der Folge gut aufgehoben fühlen.
Ich habe zudem beobachtet, dass gerade die Kolleginnen und Kollegen der Kieferchirurgie häufig dankbar für kieferorthopädische Fälle sind, weil die Patienten im Allgemeinen sehr aufgeschlossen sind – es handelt sich ja häufig im weiten Sinne um Wahleingriffe.
Ist der richtige Partner gefunden, empfehle ich einen möglichst persönlichen Austausch unter den Ärzten. Auch ein gemeinsamer Termin mit dem Patienten hat sich in unserer Klinik in der kombinierten Sprechstunde von Kieferorthopädie und Kieferchirurgie bewährt. Und: sich Zeit für die zentralen Therapieschritte nehmen! Erfahrungsgemäß erleichtert das das weitere Vorgehen und erhöht am Ende sogar den Erfolg der Therapie.
Vielen Dank, Herr Professor Wolf, für die interessanten Einblicke.
Patientenfall
Zur Veranschaulichung des interdisziplinären kieferorthopädisch-kieferchirurgischen „Aachener Therapiekonzeptes“, das von den Abteilungen für Kieferorthopädie (Leitung: Univ.-Prof. Dr. Michael Wolf) und Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Uniklinik Aachen (Leitung: Univ.-Prof. Dr. Dr. Frank Hölzle) über viele Jahre gemeinsam etabliert wurde und fortan ständig weiterentwickelt wird, folgt ein Überblick eines kombiniert behandelten Patientenfalls mit einer individualisierten setup-basierten lingualen Multibracket-Apparatur.