Kieferorthopädie als Fachdisziplin im Zentrum für Seltene Erkrankungen

Dieser Artikel erschien bereits in den Informationen aus Orthodontie & Kieferorthopädie 1/2022 – Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autoren und des Thieme-Verlags.

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Interdisziplinäre Behandlung von Patienten mit
Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten und Robin Sequenz

Dr. Teresa Kruse, Prof. Dr. Bert Braumann, Köln

 

In diesem Artikel wird beispielhaft die Betreuung von Patientinnen und Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten und Robin-Sequenz von der pränatalen Diagnostik bis zum Wachstumsabschluss beschrieben. Das kieferorthopädische Behandlungsmanagement bei Betroffenen mit oro- und kraniofazialen Fehlbildungen ist komplex, zeitintensiv und erfordert eine interdisziplinäre Koordination. Vernetzte Zentrumsstrukturen bieten eine bestmögliche interdisziplinäre Expertise bei diesen seltenen Erkrankungen. Ziel und Aufbau dieser spezialisierten Zentren sollen hier erläutert werden. Unter anderem sollten sie niederschwellig als Ansprechpartner zu Verfügung stehen und niedergelassene Kieferorthopädinnen und Kieferorthopäden in Therapieplanung, Timing und Trouble-Shooting unterstützen. Das Grundverständnis der häufigsten oro-und kraniofazialen Anomalien und die Kenntnis über frühe Behandlungsschritte wie der Versorgungen mit einer Gaumenplatte oder Spornplatte sind für kieferorthopädisch Behandelnde wichtig. Denn nur so kann eine sichere, effektive Therapie und eine stabile ästhetische und funktionelle Rehabilitation gewährleistet werden. Funktionelle Beeinträchtigungen sowie skelettale und dentale Anomalien erfordern bei dieser Patientengruppe eine vorausschauende kieferorthopädische Planung. Eventuell notwendige chirurgische Eingriffe müssen im Ablauf mit bedacht und Therapieentscheidungen immer mit dem Ziel getroffen werden, die Behandlung möglichst effektiv zu gestalten.  

 

Zentrumsstrukturen

In Europa gilt eine Krankheit als selten, wenn höchstens 5 von 10 000 Personen von ihr betroffen sind [1]. Seltene Krankheiten können sich bereits pränatal oder direkt nach der Geburt manifestieren und unter Umständen zu lebensbedrohlichen Akutsituationen führen. Meist sind es chronische und/oder fortschreitende Erkrankungen, die unter Umständen auch erst nach langem Diagnoseweg erkannt werden. Aufgabe eines Zentrums für Seltene Erkrankungen ist es, als fachübergreifende Einrichtung die medizinische Versorgung von Betroffenen zu verbessern und als Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten mit gesicherter seltener Diagnose, klarer Verdachtsdiagnose oder unklarer Diagnose zu dienen. 

2009 wurde das erste Zentrum für Seltene Erkrankungen in Deutschland gegründet. Die Anzahl der unter Orphanet gelisteten in Deutschland aktiven Zentren betrug im August 2021 34 [2]. In Österreich steht bei der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans für Seltene Erkrankungen die Designation von Expertisezentren für definierte Gruppen von Seltenen Erkrankungen im Vordergrund, auch explizit solche für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und kraniofaziale Anomalien. Sie sind auf Orphanet Österreich gelistet [3]. Ebenso findet man entsprechende Expertenressourcen für Seltene Krankheiten in der Schweiz auf dem Schweizer Internet-Zugangsportal zu Orphanet [4].

Auch wenn international noch keine einheitlichen Zentrumsstrukturen etabliert werden konnten, ist das gemeinsame Ziel, Expertise für verschiedene Seltene Erkrankungen zu bündeln. Dies wird neben der multidisziplinären Vernetzung innerhalb einer Klinik vor allem durch die Vernetzung mit anderen Zentren und Kliniken vorangetrieben, z. B. im Netzwerk NRW-ZSE [5], oder international in European Reference Networks [6]. Eine enge Zusammenarbeit mit niedergelassenen (auch kieferorthopädischen) Praxen wird ausdrücklich gewünscht. Die Fort- und Weiterbildung auf dem Gebiet der Seltenen Erkrankungen als übergreifende Aufgaben der (Expertise-) Zentren für Seltene Erkrankungen soll somit intensiviert werden.

 

Patientinnen und Patienten des (Expertise-) Zentrums für Seltene Erkrankungen

Unter den ca. 30.000 Krankheiten, die weltweit bekannt sind, zählen etwa 7.000 zu den Seltenen Erkrankungen [1]. Angeborene Fehlbildungen im Mund-Kiefer-Gesichts-Bereich bilden hier eine eigene Gruppe unterschiedlicher Entitäten. Man unterscheidet Kraniosynostosen mit vorzeitiger Verknöcherung der Schädelnähte (z. B. Apert- und Crouzon-Syndrom) von Kiemenbogen-Syndromen (z. B. Goldenhar-Syndrom) und von anderen z.T. sehr seltene Erkrankungen wie der Dysostosis cleidocranialis. Zu den orofazialen Fehlbildungen gehören die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten (LKG) und die Robin Sequenz, die isoliert oder in Kombination mit einem Syndrom auftreten können.

Obwohl LKG-Spalten mit einer Inzidenz von 1:600 Geburten als häufigste angeborene Fehlbildung im orofazialen Bereich gelten, gehören sie zu den Seltenen Erkrankungen [7]. Denn orofaziale Spalten können in verschiedenen Erscheinungsformen und Schweregraden auftreten. Eine grobe Einteilung unterscheidet embryo-genetisch und morphologisch in Lippen-Kiefer-Spalten mit und ohne Gaumen-Spalte und isolierte Gaumen-Spalten. Jede Spaltform kann ein- oder doppelseitig sowie total oder partiell vorkommen. Seltenere Spaltformen sind submuköse Gaumenspalten, mediane oder quere Gesichtsspalten. Damit tritt die Spaltbildung als solche zwar häufig auf, die mit dieser im Zusammenhang stehenden unterschiedlichen Entitäten sind jedoch selten [8]. Bei nichtsyndromalen Spalten kann die Diagnose anhand der morphologischen Abweichung gestellt werden, es handelt sich somit um eine gesicherte Seltene Erkrankung. Etwa
30-50 % aller Spaltbildungen sind mit einem (seltenen) Syndrom assoziiert [9], dessen Diagnose häufig erst durch genetische Untersuchungen gesichert werden kann [10]. Auch bei zunächst unentdeckten Minimalformen wie z. B. der submukösen Gaumenspalte, bei der intakte Schleimhaut die Spalte verdeckt, kann der Diagnoseweg länger sein. Hier stellen sich Betroffene im Zentrum für Seltene Erkrankungen oft mit unklarer Verdachtsdiagnose aufgrund von funktioneller Beeinträchtigung beim Trinken und/oder der Phonation vor.

Die Robin Sequenz wird mit einer Inzidenz von 1:3120 [11] bis 1:8060 [12] angegeben. In ca. 50 % der Fälle tritt sie zusammen mit einem Syndrom auf [13]. Die Robin Sequenz ist charakterisiert durch eine mandibuläre Retro- und Mikrognathie, eine Glossoptose und ausgeprägte obstruktive Atemstörungen [14]. Bis zu 90 % der Betroffenen werden mit einer U-förmigen Gaumenspalte geboren [15, 16]. Die Atemstörung kann bei Neugeborenen einerseits lebensbedrohlich werden. Andererseits ist sie klinisch nicht immer eindeutig zu diagnostizieren, weshalb zur Objektivierung eine Untersuchung im Schlaflabor (Polygraphie oder Polysomnographie) empfohlen wird [17].

Kieferorthopädie als Teil der interdiszipli­nären Behandlung

Die Versorgung von Patienten mit LKG-Spalten und Robin Sequenz gliedert sich aus kieferorthopädischer Sicht in vier Phasen: die prächirurgische kieferorthopädische Frühbehandlung direkt nach der Geburt, die Frühbehandlung im Milch- und frühen Wechselgebiss, die Hauptbehandlung im späten Wechselgebiss und die Behandlung im bleibenden Gebiss mit ggf. kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgischem Vorgehen. Während die Primärversorgung von Neugeborenen mit einer individuell gefertigten Gaumenplatte bzw. Spornplatte, sowie alle chirurgischen Maßnahmen in die Hände von spezialisierten Zentren gehören, kann die kieferorthopädische Therapie der Zahn- und Kieferfehlstellungen auch im niedergelassenen Bereich erfolgen. Ätiologie, Diagnostik und Therapie von Seltenen oro- und kraniofazialen Erkrankungen gehören somit in die fachzahnärztliche Fort- und Weiterbildung.

 

Literaturhinweise_Kruse_Braumann

 

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