Korrelation zwischen ADHS und CMD bei Erwachsenen

Adam-Mickiewicz-Universität Poznen, Polen

Ob ein Zusammenhang zwischen einer AD(H)S-Problematik und der CMD im Kindesalter besteht, damit haben sich bereits einige Studien beschäftigt. Eine Korrelation liegt nahe, wenngleich beide Krankheitsbilder nicht zwangsläufig miteinander verbunden sind oder sich gegenseitig bedingen. Dass AD(H)S-Symptome mit HWS-Funktionsstörungen eng korrelieren können, zeigten bereits 2004 Bastecki et. al. in ihrer Studie „Cervical kyphosis is a possible link to attention-deficit/hyperactivity disorder” [1].

Aktuell befasste sich nun eine Studie aus Polen mit der Frage, ob ein Zusammenhang der im Erwachsenenalter weiter bestehenden AD(H)S-Symptome mit Problemen einer CMD-Symptomatik sowie der Intensität von Gesichtsschmerzen und Schlafstörungen bestehe. Federführend betreut wurde die Studie von Bogusław Stelcer und Anna Sójka-Makowska, veröffentlicht 2022 in der European Review for Medical and Pharmacological Sciences [2].

Die Studiengruppe bestand aus 252 Personen beiderlei Geschlechts im Alter von 18 bis 55 Jahren, die im Allgemeinen gesund waren. Jeder Teilnehmer wurde gebeten, mehrere Fragebögen auszufüllen, z.B. ASRS (die ADHS-Selbstberichtsskala der Weltgesundheitsorganisation für Erwachsene) oder DIVA (18 Fragen, neun für Konzentrationsund Aufmerksamkeitsstörungen mit einer Option im Erwachsenenalter und in der Kindheit, neun für Hyperaktivität und Impulsivität mit einer Option im Erwachsenenalter und in der Kindheit). Die Kriterien für die AD(H)S-Diagnose sind bei Kindern und Erwachsenenalter identisch, die Symptome werden anhand einer fünfdimensionalen Skala gemessen, die exekutive Störungen, Unaufmerksamkeit, Impulsivität, Hyperaktivität, emotionale Dysregulation und andere Störungen umfasst. Bei Erwachsenen mit AD(H)S werden viele der Symptome der Unaufmerksamkeit auch als Exekutivdefizite eingestuft. Patienten mit AD(H)S haben oft Schwierigkeiten, Aktivitäten zu organisieren, Prioritäten zu setzen, Aufgaben zu erledigen und die Zeit zu verwalten – das führt häufig zu Problemen im Berufsleben. Darüber hinaus weisen 38 % von ihnen Stimmungsstörungen auf, 47 % der erwachsenen Bevölkerung mit anhaltender AD(H)S haben Angststörungen und 15 % leiden an einer Suchtkrankheit. Die CMD wird als multifaktorelles Schmerzsyndrom im orofazialen System definiert. Zu den Symptomen zählen Schmerzen im Bereich der Kaumuskeln oder der Kiefergelenke, Knirschen, Bandscheibenverschiebungen und Einschränkungen oder Asymmetrien bei den Bewegungen des Unterkiefers.

Die polnischen Wissenschaftler verfolgten in ihrer Arbeit drei Hypothesen:

Hypothese 1: Es gibt signifikante Unterschiede zwischen Erwachsenen mit AD(H)S und Erwachsenen ohne AD(H)S in Bezug auf das Erleben von Schmerzen und deren Auswirkungen auf das Funktionieren des Individuums und mögliche Probleme im Zusammenhang mit Kiefergelenkstörungen.

Hypothese 2: Es gibt signifikante Unterschiede zwischen Personen mit diagnostizierten Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen in der Kindheit und Personen ohne diagnostizierte Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen in der Kindheit in Bezug auf den Schweregrad der CMD-Symptome.

Hypothese 3: Es gibt signifikante Unterschiede zwischen Personen mit diagnostizierten Hyperaktivitäts- und Impulsivitätsstörungen im Erwachsenenalter und Personen ohne diagnostizierte Hyperaktivitäts- und Impulsivitätsstörungen im Erwachsenenalter in Bezug auf den Schweregrad der CMD-Symptome.

Ergebnis

Die Ergebnisse dieser Studie zeigten, dass die Häufigkeit von Okklusionsstörungen bei Erwachsenen mit AD(H)S höher war als bei Erwachsenen ohne AD(H)S-Symptome. Die Häufigkeit der nicht okklusalen Parafunktionen war in beiden Gruppen ähnlich. Schmerzen und Taubheitsgefühle im Gesicht, die bei Erwachsenen nach dem Aufwachen auftreten, waren in beiden Gruppen ähnlich. Die erzielten Ergebnisse bestätigen die Schlussfolgerungen, die aus anderen Berichten über die Häufigkeit von AD(H)S-Symptomen im Erwachsenenalter gezogen wurden: Die Erwachsenen wiesen eine statistisch signifikant höhere Intensität der Schläfrigkeit auf. Gleichzeitig wurden keine Unterschiede zwischen Personen mit und ohne AD(H)S-Symptome in Bezug auf die Häufigkeit von Schlaflosigkeit und deren negative Auswirkungen festgestellt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bewertung der AD(H)SSymptome ein ernsthaftes Forschungsproblem darstellt, da diese Krankheit von keinem spezifischen Symptom begleitet wird, das nur diese Störung charakterisieren würde.

Fazit

Es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen AD(H)S und dem Auftreten von CMD-Symptomen bei Erwachsenen. Erwachsene mit AD(H)S sind im Vergleich zu Erwachsenen ohne AD(H)S durch eine größere Intensität von Schläfrigkeit, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen und möglichen Problemen im Zusammenhang mit Kiefergelenksbeschwerden sowie somatischen Stressmanifestationen gekennzeichnet. Bei Erwachsenen gehen Hyperaktivitäts- und Impulsivitätsstörungen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einher, Probleme im Zusammenhang mit der Muskelspannung und den Kiefergelenken zu entwickeln, als bei Personen ohne diagnostische Störungen. Der Schweregrad der somatischen Symptome, die der CMD-Klassifikation entsprechen, steigt zusammen mit:

  1. einer Zunahme der Schlaflosigkeit oder Somnolenz;
  2. einer Zunahme von Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, die sich im Erwachsenenalter und in der Kindheit zeigen;
  3. einer Zunahme von Hyperaktivitäts- und Impulsivitätsstörungen, die im Erwachsenenalter auftreten.

 

Prof. Dr. Wibke Bein-Wierzbinski hat die Studie für ORTHOorofacial gelesen. Eine Einordnung der Expertin finden Sie in unserem Online-Angebot unter https://ortho-orofacial.com

Zur Person: Prof. Dr. Wibke Bein-Wierzbinski studierte Lehramt an der Universität Hamburg, 2004 promovierte sie zur Dr. phil. – ebenfalls an der Universität Hamburg – zum Thema „Räumlichkonstruktive Störung bei Grundschulkindern“.

Während ihrer Promotion war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Erziehungswissenschaft, Diagnostik und Förderung von Kindern mit Lernbeeinträchtigung tätig. Seit 1997 ist Prof. Dr. Bein-Wierzbinski mit einer Pädagogischen Praxis für Kindesentwicklung (PäPKi®) selbstständig: Der Fokus ihrer Arbeit liegt dabei auf der Diagnostik und Förderung bei Entwicklungs- und Lernauffälligkeiten, der Ursachenforschung von Entwicklungs- und Lernstörungen sowie sekundären Kompensationsmustern im Erwachsenenalter. Praktische Lehrerfahrungen sammelte die Expertin für Medizinpädagogik beispielsweise an der Diploma Hochschule und als Dozentin in Weiterbildungs- und Ausbildungslehrgängen.

An der Hamburger FOM ist sie seit 2020 im Einsatz, unter anderem für die Module „Psychosomatische Erkrankungen“. Des Weiteren erarbeitet sie in Theorie und Praxis das ernährungsphysiologische Konzept der Bedarfsorientierten Ernährung und der zielgerichteten Bewegungsförderung.