Künstliche Intelligenz und Psychologie
Prof. Dr. Peter Kropp, Universitätsmedizin Rostock
(veröffentlicht in Ausgabe 01|2022)
Die Psychologie ist eine sehr konservative Wissenschaft vom Erleben und Verhalten. Konservativ deswegen, weil diese Wissenschaft vom Kontakt zwischen dem Therapeuten und dem Patienten lebt. So gesehen bleibt nur wenig Platz für Neuerungen, insbesondere aus der Künstlichen Intelligenz. Behandlungen finden größtenteils auch während der Pandemie „in echt“ und direkt statt. Dann wirken sie nachhaltiger und sind effektiver als beispielsweise über Video-Telefonie.
Dennoch lassen sich sehr interessante Ansätze auch in der Psychologie hinsichtlich der Anwendung der Künstlichen Intelligenz aufzeigen. Diese findet man unter anderem bei der automatischen Erfassung von Emotionen. Ganz kurz ein Grundkurs über Emotionen: Der Mensch verfügt über sechs primäre Emotionen (Freude, Angst, Wut, Überraschung, Ekel, Trauer), die weltweit gleich sind, universell erkannt werden und hauptsächlich über die Mimik kommuniziert werden (Ekman 2004). Außerdem sind Emotionen angeboren und brauchen deswegen nicht erst erlernt zu werden. Emotionen beim Gegenüber erkennen wir sehr schnell und reagieren darauf auch unmittelbar – immerhin lösen Trauer und Angst eher fürsorgliches Verhalten aus, Wut eher die sogenannte „Kampf-Flucht“-Reaktion und bei Freude lachen wir vorzugsweise mit.
In internationalen Datenbanken sind über 340 Publikationen verzeichnet, welche die Emotionserkennung über Künstliche Intelligenz zum Untersuchungsgegenstand haben. Dabei geht es hauptsächlich um eine schnelle und zuverlässige Erkennung der zugrundeliegenden primären Emotion über ein kurzes Video, welches nur einige Sekunden andauert. In wenigen Schritten kann das Computer-Programm in Echtzeit lernen, welche Emotion des Betrachters am wahrscheinlichsten vorliegt. Es werden dann die Wahrscheinlichkeiten der sechs Grundemotionen unmittelbar nach der Videoaufnahme angegeben. Somit könnte die Gesichtserkennung am Smartphone, die ja oft zum Einschalten des Gerätes verwendet wird, gleichzeitig auch die Stimmung des Anwenders erkennen (Kolakowska et al. 2020). Wenn der Anwender damit einverstanden wäre, könnte er spezifische Musik oder geeignete Tipps zum Beibehalten der (positiven) Emotion oder zum Ändern eines negativen Gefühls erhalten. Inwieweit dies sinnvoll und erstrebenswert ist, möge jeder selbst entscheiden!
Und es geht noch weiter: eine Arbeitsgruppe aus Ulm und Magdeburg arbeitet an der automatisierten Erkennung von Schmerzzuständen mittels maschinellen Lernens, bei dem sehr unterschiedliche Sensoren eingesetzt werden. Dies kann dann vorteilhaft sein, wenn der Patient nicht in der Lage ist, über seine Schmerzen zu berichten. Anhand selbstlernender Systeme kann ein möglicher Schmerz erkannt und dessen Intensität bestimmt werden. Damit könnte eine angepasste Schmerztherapie eingeleitet werden.
Selbstlernende Systeme ermöglichen es uns, die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, mit der ein Migräneanfall in den nächsten 24 Stunden auftreten wird (Kropp et al. 2005). Damit ergeben sich völlig neue Behandlungsmöglichkeiten, weil mit dieser „präemptiven Therapie“ weder eine Prophylaxe noch eine Akutbehandlung vorliegt.
Auch in der Kieferorthopädie werden immer mehr Verfahren der Künstlichen Intelligenz angewendet. Diese werden in diesem Heft ausführlich beschrieben. Der Effekt ist dabei nicht nur eine Entlastung des Anwenders von Routineaktivitäten, sondern das Programm lernt, definierte Merkmale zu gewichten und diese gezielt einzusetzen, um das Gesamtergebnis optimieren zu können.
So gesehen ergeben sich auch bei kritischer Betrachtung phantastische Möglichkeiten in der Anwendung künstlicher Intelligenz – lassen Sie sich überraschen!
Literaturhinweise:
Ekman P (2004): Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. Spektrum, München 2004.
Kołakowska A, Szwoch W, Szwoch M (2020). A Review of Emotion Recognition Methods Based on Data Acquired via Smartphone Sensors. Sensors (Basel) Nov 8;20(21):6367. doi: 10.3390/s20216367.
Kropp P, Gerber WD (2005) Slow cortical potentials and migraine: predictive value and possible novel therapeutic strategies to prevent an attack. Functional Neurology 20(4):193-197.
Walter S, Al-Hamadi A, Gruss S, Frisch S, Traue HC, Werner P (2020). Multimodale Erkennung von Schmerzintensität und -modalitätmit maschinellen Lernverfahren. Schmerz · 34:400–409, https://doi.org/10.1007/s00482-020-00468-8.