Mehr Expertise auch in der Zahnmedizin
Warum es mit Blick auf Seltene Erkrankungen mehr Ausbildung braucht
Der Ausdruck „Seltene Erkrankungen“ suggeriert, dass dieses Thema nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung betrifft. Tatsächlich sind alleine in Deutschland rund 4 Millionen Patientinnen und Patienten betroffen. Häufig manifestieren sich Symptome auch im orofazialen Bereich. Damit wird dem Zahnarzt hier eine wichtige Rolle im Rahmen der Früherkennung und Diagnostik zuteil. Wir haben mit Dr. Marc Auerbacher gesprochen. Er ist Leiter der Einrichtung Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung an der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie in München und behandelt dort seit zehn Jahren Menschen mit besonderen Bedürfnissen und dentalen Anomalien. Er erzählt, wie das gesamte Behandlungsteam durch das Auftreten zum Behandlungserfolg beitragen kann, welche Fragen es im Umgang mit seinen Patientinnen und Patienten zu klären gilt, und was sich in der öffentlichen Wahrnehmung ändern müsste, um das Thema „Seltener Erkrankungen“ aus der Nische zu holen.
ORTHOorofacial: Weltweit sind zurzeit 7.000 bis 8.000 seltene Erkrankungen bekannt, wobei – nach Angaben der John-Hopkins-University/Maryland – hiervon ca. 15 % orofaziale Beteiligungen aufzeigen können. Was bedeutet dies für den niedergelassenen Fach-/Zahnarzt? Welche interdisziplinären Ansätze sehen Sie?
Dr. Marc Auerbacher: Für den Zahnarzt bzw. Kieferorthopäden bedeutet dies, dass er bei den betroffenen Patienten keinen typischen Regelbefund vorfinden wird. Dentale Anomalien im Sinne einer Hyper- bzw. Hypodontie oder Nichtanlagen können vorhanden sein, ebenso strukturelle Veränderungen der Zahnsubstanz und oralen Weichgewebe. Daneben können skelettale Dysgnathien und kraniofaziale Fehlbildungen, wie z.B. die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte auftreten.
Dem Zahnarzt wird hier eine wichtige Rolle im Rahmen der Früherkennung und Diagnostik zuteil, indem er bei auffälligen Befunden mit Verdacht auf eine Seltene Erkrankung an spezielle Fachärzte und Zentren überweist. Damit kann der oftmals lange Leidensweg der Patienten von der gesicherten Diagnosenstellung bis zur Einleitung einer richtigen Therapie verkürzt werden. Aufgrund der Komplexität der orofazialen Manifestationen und den damit verbundenen Auswirkungen z.B. auf die Kau- und Schluckfunktion oder der Sprachentwicklung ist ein frühzeitiges, multidisziplinäres Behandlungskonzept notwendig, das die Einbindung sämtlicher fach(zahn)ärztlicher Disziplinen, aber auch von Therapeuten, Pflegepersonal und Angehörigen erforderlich macht.
ORTHOorofacial: Als Leiter der Einrichtung Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung an der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie betreuen Sie seit vielen Jahren auch Patienten mit seltenen Erkrankungen zahnmedizinisch. Wie gehen Sie vor – vom Befund bis zum Behandlungskonzept?
Dr. Marc Auerbacher: Zunächst gilt es die Frage zu klären, muss der Patient auf die Behandlungsliege transferiert werden, oder kann er in seinem Rollstuhl behandelt werden? Mit einfachen Hilfsmitteln wie Lagerungskissen kann eine Unterstützungsfläche für den Patienten geschaffen werden, um den oftmals angespannten Muskeltonus positiv zu beeinflussen, aber auch um ein besseres Schlucken zu ermöglichen. Das Vertrauen des Patienten muss schrittweise erarbeitet werden. Viele Patienten haben negative Erfahrungen im Zusammenhang mit (Zahn-)Arztbesuchen gemacht oder hatten noch nie eine Behandlung im Wachzustand. Eine ruhige, sonore Stimme während der Behandlung ist hilfreich. Ein Situationsbezug kann über einen vertrauten Gegenstand wie z.B. eine Zahnbürste hergestellt werden. Der Patient muss immer wieder gelobt und motiviert werden. Das Behandlungsteam muss Gelassenheit und Empathie ausstrahlen. Auf diesem Weg kann ein individualisierbares Prophylaxe- und Behandlungskonzept die Häufigkeit von Behandlungen in Narkosen verringern und zu einer Verbesserung der Lebensqualität beitragen.
ORTHOorofacial: Welche Herausforderungen begegnen Ihnen insbesondere in Ihrer Fachrichtung?
Dr. Marc Auerbacher: Unsere Patienten haben verschiedenartigste Behinderungen im körperlichen, kognitiven und/oder seelischen Bereich oder Autismus-Spektrum-Störungen. Die damit einhergehenden Herausforderungen auf dem Zahnarztstuhl sind vielseitig und können von Ängsten, fehlender Behandlungseinsicht, Kommunikationsbarrieren bis hin zu Dysphagien und Würgreflexen reichen. Letzteres oft im Zusammenhang mit Langzeitintubation und nasogastraler Sondenernährung. Eine schrittweise Adaption an eine Behandlung und die konsequente Anwendung verschiedener verbaler und non-verbaler Techniken aus der Verhaltensführung und Kommunikationsstrategien ermöglichen in vielen Fällen trotz der eingeschränkten Compliance eine Behandlung der Patienten im Wachzustand. Die erforderlichen Prophylaxebehandlungen können so regelmäßig und engmaschig durchgeführt werden, was sonst meist nur in Verbindung mit einer Vollnarkose stattfindet.
ORTHOorofacial: Sie haben einmal gesagt: „Es handelt sich um eine gesellschaftspolitische und berufsethische Verpflichtung.“ Sie sprachen da von der Kenntnis und Anwendung von Kommunikationsstrategien und verhaltensführenden Techniken, um den Menschen Ihnen gegenüber bestmöglich zu unterstützen. Können Sie uns ein bisschen was darüber erzählen?
Dr. Marc Auerbacher: In der UN-Behindertenrechtskonvention wird das Recht von Menschen mit Behinderung auf eine gleichwertige (zahn-)medizinische Versorgung gefordert. Dennoch ist die zahnärztliche Versorgungsqualität und die Häufigkeit von Zahnarztbesuchen bei dieser Patientengruppe im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung geringer. Durch ein spezielles zahnärztliches Behandlungssetting, das den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten in ihrer Besonderheit gerecht wird, kann in vielen Fällen eine Behandlung auf dem Zahnarztstuhl gelingen und so zu einer erfolgreichen und lebenslangen Zahnarzt-Patient-Beziehung beitragen.
ORTHOorofacial: Welche Rolle spielt bei Ihnen die Kommunikation mit Angehörigen?
Dr. Marc Auerbacher: Im Gespräch mit Angehörigen können erste und wichtige Informationen über die Erkrankung in Erfahrung gebracht werden, da diese oft ein beeindruckendes Fachwissen aufweisen. Die Einbindung von Angehörigen in die Behandlung ist insofern wichtig, als dass diese einen entscheidenden Beitrag zur häuslichen Zahn- und Mundpflege leisten. Ein individueller Mundhygieneplan muss erstellt und die praktische Umsetzung mit den pflegenden Angehörigen besprochen und gegebenenfalls geübt werden. Auch Ernährungsaspekte müssen immer wieder erläutert und diskutiert werden, insbesondere bei Patienten, die auf hochkalorische und oral verabreichte Nahrung angewiesen sind und damit ein hohes Kariesrisiko haben.
ORTHOorofacial: Wie hat sich Ihre praktische Arbeit in den vergangenen Jahren verändert?
Dr. Marc Auerbacher: Was sich verändert hat ist die Herangehensweise und der Umgang mit dieser besonderen Patientengruppe. Als Behandlungsteam haben wir uns nicht nur auf fachlichem Gebiet weiterentwickelt, sondern auch dahingehend, als dass uns so schnell nichts aus der Ruhe bringen kann. Während wir zu Beginn vor 10 Jahren in manchen Fällen unsicher waren, ob eine Befundaufnahme bei einem Patienten mit starker Unruhe und Affektlabilität überhaupt möglich ist, sind wir dank der jahrelangen Erfahrung besser für derartige Stresssituationen gewappnet.
Auch sind wir sensibilisierter für die Sorgen und Nöte dieser vulnerablen Patientengruppe. Für viele Patienten und Angehörige geht es in erster Linie darum, ein zahnärztliches Zuhause zu finden, wo trotz aller Hindernisse und Erschwernisse eine zahnärztliche Behandlung erfolgen kann, auch wenn dies viel Zeit und Geduld erfordert.
ORTHOorofacial: Was müsste sich Ihrer Meinung nach in unserem Gesundheitssystem ändern, damit Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen noch besser betreut werden können?
Dr. Marc Auerbacher: Die Einrichtung und Finanzierung von spezialisierten Versorgungszentren für Menschen mit Seltenen Erkrankungen muss vorangetrieben werden. Diese müssen mit multiprofessionelle Expertenteams ausgestattet werden. Damit fachlich qualifiziertes Personal überhaupt zur Verfügung steht, muss in einem ersten Schritt die Möglichkeit für eine angemessene Aus-, Fort und Weiterbildung geschaffen werden. Dazu ist eine stärkere Berücksichtigung Seltener Erkrankungen in der (zahn)medizinischen Ausbildung und in der anderer Gesundheitsberufe notwendig. Auch die Einrichtung, der Ausbau und die Pflege von Datenbanken zur Erfassung und Kodierung Seltener Erkrankungen muss gefördert und eine bessere Vernetzung nationaler und internationaler Experten erreicht werden.
ORTHOorofacial: Wie steht es in der Forschung um das Thema „Seltene Erkrankungen“? Würden Sie sich hier mehr öffentliche Wahrnehmung wünschen?
Dr. Marc Auerbacher: Wenn wir von Seltenen Erkrankungen sprechen, darf nicht der Eindruck entstehen dass es sich um ein Thema handelt, dass nur eine Minderheit in unserer Gesellschaft betrifft. Deutschlandweit sind circa vier Millionen Menschen betroffen, weltweit schätzt man die Zahl der Betroffenen auf bis zu 400 Millionen. Öffentliche Gelder stehen für die Erforschung Seltener Erkrankungen kaum zur Verfügung. Ein Grund, warum die Forschung zu Diagnose, Therapie und Prävention Seltener Erkrankungen eher schleppend vorangeht und das Interesse von Experten und Expertinnen unter solchen Bedingungen eher verhalten ist. Oft sind es die Betroffenen und Angehörigen selbst, die auf das Thema aufmerksam machen, Selbsthilfegruppen gründen, Expertenwissen vernetzen und Gelder akquirieren, um damit Forschungsprojekte anzustoßen. Ein ungeheuerlicher Kraftakt, der da zusätzlich zum persönlichen Schicksal gestemmt werden muss.
Herzlichen Dank, lieber Herr Dr. Auerbacher, für das freundliche Gespräch!
Dr. Marc Auerbacher
- Ausbildung zum Ergotherapeuten
- Zweijährige Tätigkeit in einer Praxis für Ergotherapie mit Schwerpunkt Erwachsenenneurologie
- Studium der Zahnmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München
- Zwei Jahre Assistenzzeit in einer niedergelassenen Praxis
- Seit 2012 verantwortlich für die Einrichtung Zahnmedizin für Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf an der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie München,
- Tätigkeitsschwerpunkt: Zahnärztliche Behandlung von erwachsenen Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen, Seltenen Erkrankungen, sowie älteren Menschen mit Pflegebedarf, außerdem studentische Lehre und Ausbildung im Bereich der Behinderten- und Alterszahnheilkunde