MUSIKER | ZAHN | MEDIZIN
Wenn Ihr Patient wirklich die erste Geige spielt

Warum es diese Spezialisierung braucht, wer von ihr profitiert und wie interdisziplinär sie aufgestellt ist

Musik heilt kein Zahnweh“, besagt ein Sprichwort aus Großbritanni-en. Dass dem tatsächlich so ist, davon können zumeist Berufsmusiker ein Lied singen. Parodontitis, Karies, Zahnfehlstellungen – all das kommt bei Musikern selbstverständlich genauso oft vor wie bei nichtmusikalischen Menschen. Mindestens. Anders als bei jenen kann es jedoch für Berufsmusiker im schlimmsten Fall existenzbedrohend sein, wenn zahnmedizinische Behandlungen das Instrument, seine Eigenheiten und möglichen Auswirkungen auf Mund, Zähne, Wangen und Lippen nicht berücksichtigen. Deshalb gibt es sie, die Musikerzahnmedizin: Das besondere Verständnis der Zahn-/Mediziner für die Musik, für Instrumente, für die Besonderheiten und Risiken des Berufsbilds des Profimusikers. 

„Was die Therapie und die Ziele der Behandlung von Musikern angeht, müssen wir immer nicht nur das eigentliche Problem des Patienten, sondern auch das jeweilige Instrument mit in unsere Überlegungen einbeziehen – ohne sein Instrument ist ein Musiker ja kaum denkbar“, sagt Prof. Dr. Dr. Ralf J. Radlanski, Direktor der Abteilung für Orale Struktur- und Entwicklungsbiologie an der Charité Berlin, Fachzahnarzt für Kieferorthopädie und Zahnmediziner am Berliner Centrum für Musikermedizin (BCMM). Tägliches stundenlanges Üben führe beispielsweise bei Blasmusikinstrumentalisten zu extrem ausgeprägter Wangen- und Lippenmuskulatur, der Anpressdruck sei ungleich höher als bei Nichtmusizierenden. 

Das BCMM versteht sich als interdisziplinäres Netzwerk von 24 Experten der Phoniatrie, HNO- und Augenheilkunde, der Komplementärmedizin, der Psychologie, der Osteopathie und vielen weiteren wissenschaftlichen Disziplinen. Gemeinsam mit Prof. Dr. Paul-Georg Jost-Brinkmann und Prof. Dr. Florian Beuer betreut Professor Radlanski hier die Zahnmedizin. Wissenschaft und Praxis gehen eng zusammen, wenn Mediziner der Charité mit Fachleuten der Hochschule für Musik sowie der Universität der Künste gemeinsam arbeiten. Ihr Ziel: Therapieansätze und Präventionsangebote für Berufsmusiker und musikalische Laien zu entwickeln. Das Besondere: Musik ist für die meisten Mediziner am BCMM nicht nur Theorie. „Die Ärzte im Zentrum für Musikermedizin kennen sich besonders gut aus mit den speziellen Bedürfnissen der Musiker, wohl auch deshalb, weil die meisten von uns auch selber Musiker sind. Wir haben ein besonderes Verständnis für die Diagnostik: Manche Befunde, mit denen ein Mensch, der nicht Musiker ist, gut leben kann – die ihn vielleicht noch nicht einmal stören – können für Musiker schon im kleinsten Detail das Üben oder gar den Auftritt unmöglich machen. Ein nur gering schief stehender Zahn drückt vielleicht auf das Mundstück und klemmt die Lippe ein; das tut weh und der Ton klingt nicht mehr gut. Oder ein Kribbeln im Arm, ein kleines neurologisches Problem, macht es für den Musiker unmöglich, feinst abgestimmt und für jeden hörbar, sein Instrument zu spielen.“

Dass gerade bei Blasinstrumentalisten die Zahn- und Kieferstellung eine ganz erhebliche Rolle spielt, liegt nahezu auf der Hand. Dr. Aneta Pecanov-Schröder und Kathrin Schuldt haben hierzu intensiv recherchiert und gemeinsam mit dem Kieferorthopäden Dr. Tobias Schütte, Soest, Details zu besonderen Therapiemöglichkeiten erörtert (lesen Sie dazu gern den ausführlichen Beitrag ab Seite 14). „Ja, das ist naheliegend“, bestätigt auch Prof. Radlanski: „Jedes Blasinstrument kann wie eine aktive kieferorthopädische Apparatur wirken. Retentionsschienen sind für mich so notwendig und sinnvoll wie beispielsweise Gehörschutz.“ Deshalb müssten auch kieferorthopädische Behandlungen bei Berufsmusikenr gut abgewogen werden, erklärt Dr. Schütte. Bereits kleinste Abweichungen eines jahrelang gut abgestimmten Systems könnten erhebliche Folgen haben.

Doch erstreckt sich der „Einsatzbereich“ der Musikerzahnmedizin weit über die Blasinstrumentalisten hinaus über das gesamte orchestrale Spektrum: Von Geigern und Bratschisten über Instrumentalisten an Flöte und Fagott bis hin zu Sängerinnen und Sängern, deren Instrument „die Stimme, der Kehlkopf, die Atmung, der gesamte Körper ist“. Profimusiker seien ähnlichen körperlichen Belastungen ausgesetzt wie Leistungssportler – und müssten deshalb auch genauso fit und leistungsfähig sein. „Ein ganzes Leben lang täglich Stunde um Stunde zu musizieren, erzeugt eine hohe körperliche Belastung – von der psychischen ganz abgesehen“, so Professor Radlanski. 


 
Prof. Dr. Dr. Ralf J. RadlanskiProf. Dr. Dr. Ralf J. Radlanski

ist Direktor der Abteilung für Orale Struktur- und Entwicklungsbiologie der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Ergänzend dazu arbeitet er in Teilzeit in einer Berliner kieferorthopädischen Gemeinschaftspraxis. Prof. Radlanski ist Präsident der EurAsian Association of Orthodontics (EAO) und war 1. Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Grundlagenforschung (AfG) der DGZMK. Forschungen treibt er hauptsächlich in den Gebieten Craniofaciale Morphogenese, Orale Struktur- und Entwicklungsbiologie sowie im Bereich biologischer Grundlagen der praktischen Kieferorthopädie voran. Die Liste seiner Fachpublikationen ist lang: Sie reichen von zahlreichen Originalpublikationen, Buchbeiträgen und Lehrbüchern zur Grundlagenforschung, zu strukturbiologischen Grundlagen zahnärztlichen Handelns bis hin zu praktischen klinischen Beiträgen im Bereich Kieferorthopädie. Prof. Radlanski ist zudem ein international gefragter Referent in der kieferorthopädischen Weiterbildung und darüber hinaus Mitglied in verschiedenen wissenschaftlichen Fachgesellschaften und -redaktionen.


 

Um dieser Belastung Stand zu halten, haben sich die Ärztinnen und Ärzte des BCMM – sowie in spezialisierten Einzelpraxen – der Musikermedizin verschrieben, mit stark interdisziplinärem Ansatz. Prof. Radlanski erklärt: „Im Zentrum für Musikermedizin arbeiten alle Fachärzte je nach Notwendigkeit in enger Absprache zusammen. Wir müssen die professionellen Musikerinnen und Musiker zunächst auf mögliche Probleme hinweisen – wenn sie ,krank´ werden, könnte es zu spät sein. Deshalb halten wir Vorlesungen über Musikermedizin nicht nur an der Charité, sondern auch an der Musikhochschule. Dabei werden die Studentinnen und Studenten schon mit der jeweils notwendigen Prophylaxe vertraut gemacht. Das beinhaltet auch Ausgleichssport. Und für die Zahnmedizin natürlich die Aufklärung, dass nun wirklich in angemessenen Abständen und regelmäßig die orale Gesundheit mit dem Musikinstrument abgeklärt werden muss.“ 

Überhaupt spiele der präventive Ansatz in der Wissensvermittlung eine immer bedeutendere Rolle. „Heute ist es Bestandteil der Ausbildung, dass auch das Üben nicht zu einer körperlichen Belastung werden darf, auch für solch schwierige Passagen, von denen jeder Musiker weiß, dass sie oft nicht ohne Schmerzen zu üben sind.“ Ist ein Problem jedoch erst einmal entstanden, ist der Weg zum Musiker-/Zahn-/Mediziner noch lange nicht vorgegeben. Selbst in Profikreisen sei es heute noch längst nicht Usus, sofort auf Musiker spezialisierte Ärzte aufzusuchen. Hierfür sieht Prof. Radlanski zwei Gründe: Einerseits gebe kaum ein Musiker ein medizinisches Problem gern zu. „Wer nicht hundertprozentig fit ist, wird schnell von der Konkurrenz verdrängt – schließlich muss man auf den Punkt eine perfekte Performance abliefern. Mängel wären sofort hörbar.“ Deshalb werde Musikermedizin im Einzelfall auch sehr diskret betrieben. Doch macht Prof. Radlanski noch ein weiteres, möglicherweise noch handfesteres Problem aus: „Viele Musiker sind nicht privat versichert (mit Ausnahme der wenigen Top-Verdiener), und es ist völlig unmöglich, diese intensive musikermedizinische Untersuchung, Beratung und Behandlung über die Krankenkasse abzurechnen. Die ist ja nur für eine ,ausreichende, zweckmäßige, wirtschaftliche´ medizinische Behandlung gedacht, nicht für eine spezielle, individuelle Patienten-Arzt-Beziehung, und schon gar nicht für Musikermedizin.“ Dabei erfordert es ein umfassendes Verständnis für Musiker und Musik, eine solch zielgerichtete Behandlung anzubieten. Wir machen das dann eher aus Leidenschaft, weil uns die Musik (und auch die Musikerinnen und Musiker) am Herzen liegen.“


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