Premiere gelungen
Zusammenhänge herstellen, Denkanstöße bieten, Diskussionen initiieren:
1. Interdisziplinärer Kongress DURCH | Atmen
Seit anderthalb Jahren stellt die ganze Welt die Atmung in den Fokus – wir möchten heute versuchen, die Atmung in den interdisziplinären Kontext zu stellen“, fasst Doris Hoy-Sauer in ihrer Begrüßung die Intension der ersten Fortbildungsveranstaltung von ORTHOwissen zusammen. Bereits mit der ersten Ausgabe von ORTHOorofacial sei die Idee entstanden, die darin immer
wieder angestoßene interdisziplinäre Diskussion auch irgendwann auf die Bühne zu heben. Am 11. September 2021 war es dann so weit: ORTHOwissen lud ein in den Gräflichen Park Bad Driburg – und hybrid vor den heimischen Bildschirm.
Das Tagungsthema DURCH | Atmen zog sich durch alle Vorträge sowie das Rahmenprogramm. Den Auftakt gab Dr. Susanne Codoni, Logopädin und Senior Consultant an der Klinik für Mund- Kiefer und Gesichtschirurgie des Uniklinikums Basel. Ihr Thema: Aufatmen – Das orofaziale System. „Wobei sich die Frage stellt: Ist es orofazial – oder orofatal?“ Sie nahm die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit auf eine Zeitreise der interdisziplinären Entwicklung und ließ sie teilhaben an ihrem reichen Erfahrungsschatz. „Wenn wir Probleme in den Mündern sehen, lutschoffene Bisse, Menschen mit Erkrankungen, Behinderungen, müssen wir uns fragen: Können wir hier allein am Mund arbeiten?“ Grundlegend sei eine umfassende Sicht auf die Diagnostik – den ganzen Menschen umfassend. „Wie steht, wie geht der Patient? Wie schaut er? Wie verhält er sich – bei Kindern auch im Zusammenspiel mit den Eltern?“ Heute sei das orofaziale System als
sensomotorische Einheit akzeptiert – Atmen, Haltung, Bewegung, Schlucken, Stimme, Sprechen und Sprache. „Es ist an mir – und jetzt auch an Ihnen – zu führen, zu coachen und die Fülle an möglichen Störungen mit orofazialer Beteiligung und deren Behandler unter einen Hut zu bekommen.“ Überhaupt komme dem Case-Management eine ganz zentrale Rolle zu. „Der Grundstein einer interdisziplinären Zusammenarbeit ist es, zu lernen, die gleiche Sprache zu sprechen, eine gemeinsame Sprache zwischen den Disziplinen zu finden.“
Den Bogen zur Kieferorthopädie spannte Jamila Pumm, Atemtherapeutin am Fachzentrum für Kieferorthopädie in Weinheim, in dem sie die „Rolle des Atmens bei der interdisziplinären KFO- Behandlung“ unterstrich. Eingehend beschrieb sie die Aufgaben der Nasen- und die Auswirkungen der Mundatmung auf den Organismus, aber auch auf das Gesichtswachstum und den gesamten Körper. Die Umstellung von Mund- auf Nasenatmung sei jedoch kein Selbstläufer – „aber dringend notwendig“. Sie selbst arbeite – gemeinsam mit den Kolleginnen im Fachzentrum – nach dem mykie®-Konzept, das sich i.d.R. über zweieinhalb Jahre erstrecke. Ihr Tipp: „Binden Sie die Eltern mit ein und schulen Sie deren Blick für eine ‚richtige‘ Mundatmung.“ Trainingsgeräte könnten beispielsweise unterstützen, den korrekten Lippenschluss zu üben. Sind Nasenatmung und Lippenschluss etabliert, stünden im zweiten Schritt die Zungenkräftigung und die richtigen Zungenruhelage sowie korrektes Schlucken im Fokus. Ziel sei – neben der dauerhaften Etablierung der Nasenatmung – eine regelrechte Okklusion, und nachhaltig mehr Gesundheit für die Kinder.
Das Thema „Hörbar Atmen – Schlafmedizin bei Säuglingen“ übernahm Prof. Dr. Bert Braumann, Direktor der Poliklinik für Kieferorthopädie an der Uniklinik Köln. Er lud ein, den „Blick zu weiten hin zu den Kindern, die bereits bei der Geburt unter Atemproblemen leiden.“ In beeindruckenden Aufnahmen beschrieb Prof. Braumann die pränatale Diagnostik und stellte therapeutische Konsequenzen obstruktiver Schlafapnoe (OSAS) bei Säuglingen vor. Beispielsweise müsse Kindern, die unter der Robin Sequenz leiden, frühestmöglich interdisziplinär geholfen werden, pädiatrisch und kieferorthopädisch – „am besten direkt nach der Geburt“. Eine individuell gefertigte kieferorthopädische Apparatur, die direkt am Gaumen anliegt („eine Prothese ohne Zähne“), könne verhindern, dass die Zunge in den Rachen fällt – das Kind könne so „ganz normal trinken und atmen“. Er erster Schritt zu einer ganz normalen Entwicklung.
Dr. Tobias Klur, Oberarzt an der Poliklinik für Kieferorthopädie an der Uniklinik Köln, führte das Thema weiter zur OSAS bei Erwachsenen, die per Definition erreicht sei bei einer Reduktion des Atemflusses um mind. 90 Prozent des Ausgangswertes. Eine zentrale Rolle in der Diagnostik spiele – neben einer ausführlichen Anamnese – das Fernröntgenseitenbild, „auf dem Sie den Posterior airway space (PAS) erkennen.“ Ist dieser verkleinert (< 10 mm), birgt dies die Indikation für eine mandibuläre Vorverlagerung. Vorsicht sei hier vor allem bei Kl. III Patienten geboten – „hier darf der Unterkiefer auf keinen Fall chirurgisch noch weiter nach hinten verlagert werden. Sprechen Sie deshalb unbedingt mit dem MKG-Chirurgen!“ Therapeutisch stehe als „Goldstandard“ die CPAP-Maske zur Verfügung, daneben seien das Positivdruckverfahren oder die Hypoglossusstimulation (Zungengrundschrittmacher) zu nennen. Kieferorthopädisch sei das Mittel der Wahl – vor allem bei leichten und mittleren Fällen – die Unterkiefer-Protrusionsschiene. „Die Anpassung einer solchen UKPS erfordert zahnmedizinische und schlafmedizinische Expertise!“
Mit den Risikofaktoren der OSAS beschäftigte sich Dr. Silvia Müller-Hagedorn, FZÄ für Kieferorthopädie in Stuttgart. Vertiefend stellte sie dar, was Dr. Klur thematisch angerissen hatte – die Rolle des PAS. Faktoren, die zu einer Verengung des PAS führten, könnten anatomischer oder funktioneller Natur sein. „Allgemein ist heute akzeptiert, dass Patienten mit obstruktiver schlafbezogener Atmungsstörung (OSBAS) kraniofaziale Besonderheiten aufweisen, die den PAS verengen.“ Diese wiederum könnten durch eine kieferorthopädische Therapie günstig beeinflusst werden. Anders gesagt: Unterbleibt eine KFO-Intervention bei Kindern mit OSBAS, entwickeln diese mit hoher Wahrscheinlichkeit als Erwachsene eine obstruktive Schlafapnoe. Die Therapie bei Kindern sollte dringend interdisziplinär erfolgen: Pädiatrie, HNO, Schlafmedizin, KFO und Logopädie.
Prof. Dr. Peter Kropp, Dipl.-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie am Universitätsmedizin Rostock, befasste sich mit dem „Umgang mit schwierigen Patienten – auch in der Pandemie“, bei dem es einem manchmal den Atem verschlagen könne. Detailliert beschrieb Professor Kropp die Probleme, die kieferorthopädische Praxen im Zusammenhang mit der Pandemie betrafen: Die Veränderung des Patientenaufkommens, mangelnde Planbarkeit, Ängste im Team, verändertes Patientenverhalten. „Wir alle müssen mit einer inzwischen schon chronischen Ausnahmesituation umgehen“, das stelle Patienten und Behandler vor neue Herausforderungen. „Neben einem sozialen gab es auch den ‚mentally lock-down‘: Das Zurückziehen aus der sozialen Umgebung brachte auch eine gewisse Reduzierung der kognitiven Fähigkeiten mit sich.“ Die Folge sei die Notwendigkeit eine intensiveren Arzt-Patienten-Beziehung. Sein Tipp: „Hören Sie Ihren Patienten zu.“ Im Schnitt unterbrächen Ärzte ihre Patienten bei deren Schilderung des Krankheitsbildes nach spätestens 59 Sekunden – „das ist, wenn Ihr Patient zum ersten Mal Atem holt.“ Ein großes Informations- und Mitteilungsbedürfnis werde als „schwierig“ empfunden – dabei sei es lediglich Ausdruck einer Kommunikationsstörung. Empathie, ein höflicher Umgangston und wertfreie Akzeptanz könnten hier weiterhelfen. „Lassen Sie ihren Patienten Zeit – auch und gerade in Zeiten der Pandemie.“
„Außer Atem“ war der letzte Teil der Fortbildung überschrieben – die Sportzahnärzte Stavros Avgerinos, Oberhausen, und Dr. Alexander Grau, Augsburg, gaben Einblicke in die Sportzahnmedizin. Den „Status Quo“ beschrieb Avgerinos, Gründungsmitglied und Ehrenpräsident der Deutschen Gesellschaft für Sportzahnmedizin, in einem kurzen Update. Eindringlich plädierte er für individuell angefertigten Sportmundschutz – und appellierte an die Kollegen, hierfür bei den sporttreibenden Patienten zu werben. „Wenn die Compliance nicht stimmt, müssen wir an uns als Zahnärzten arbeiten.“ Doch gingen Schienen im (Hoch-)Leistungssport weit über den Schutz der Zähne hinaus.
Leistungssteigerung und Regeneration, so Dr. Alexander Grau, könne eine Schienentherapie in der Sportzahnmedizin bewirken. Hierzu nutze man die Wechselwirkungen zwischen Okklusion und Körperstatik – auf skelettaler, muskulärer, faszialer und neuronaler Ebene –, und auch hier stehe die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Fokus. Einerseits sei es so möglich, Blockaden zu lösen, beispielsweise im Bereich der Wirbelsäule, andererseits, störendes Neurofeedback auszuschalten. Speziell angefertigte „Wettkampfschienen“ harmonisierten die Okklusion und erhöhten die Gelenkstabilität – was „zwangsläufi g“ zur Leistungssteigerung führe.
Die „Premiere“ des ORTHOwissen-Kongresses ließen Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemeinsam mit den Referenten auf der Terrasse des Gräflichen Parks bei einem Glas Sekt in großartiger Atmosphäre ausklingen. Am Ende waren sich alle einig: Dieser gelungene Auftakt kann und soll den Startschuss geben zu einer Fortbildungsreihe, die die Disziplinen zusammenbringt.
Weitere Impressionen zum Kongress finden Sie unter https://ortho-orofacial.com/orthowissen/
SAVE THE DATE:
2. Interdisziplinärer Kongress
ORTHOwissen
Wo: Gräflicher Park Bad Driburg
Wann: 10. September 2022
Web: www.ortho-orofacial.com
Bildnachweis:
Thomas Ecke, Berlin