SEA LOVE KFO 2023: ABZ ZR widmete sich am Tegernsee der Zukunft der Kieferorthopädie
Nach der gelungenen Premiere im vergangenen Jahr waren die Erwartungen hoch, und – es sei vorweggenommen: SEA LOVE KFO, der Kongress der ABZ ZR, hielt diesen nicht nur Stand, sondern übertraf sie deutlich. Die neue Location im Althoff Seehotel Überfahrt, direkt am Tegernsee gelegen, trug hierzu ebenso bei wie das phantastische Programm, das Dr. Moritz Försch gemeinsam mit ABZ ZR-Geschäftsführer Tassilo Richter zusammengestellt hatte.
Dies zeigte sich bereits am Vorabend des eigentlichen Kongresses, als Technologie-Investor Frank Thelen, bekannt aus der TV-Gründer-Show „Die Höhle der Löwen“, in seiner Keynote die KI in den Mittelpunkt stellte – oder genauer „Neue disruptive Techniken, die unsere Welt in allen Bereichen in den kommenden Jahren verändern werden.“ Die Menschheit stünde aktuell vor ihren größten Herausforderungen: Klimawandel, Pandemien, Ressourcenmangel – und die KI als Waffe. „Die Technologie ist die Ursache für unsere Herausforderung, aber auch die einzige Lösung.“ Auch in der Kieferorthopädie. „Technologien wie KI, 3D-Druck und die Robotik werden die KFO präziser, individueller und effizienter machen.“ Diese Lösungen seien bereits verfügbar für die Praxis – und erst der Anfang. Wie groß der Einfluss der künstlichen Intelligenz in Zukunft auf Diagnostik, Planung und kieferorthopädische Therapie sein wird, lässt sich heute nur erahnen. Sein Rat: „Beschäftigt Euch mit diesen Technologien.“ Angst vor der Zukunft müsse man in der Kieferorthopädie dennoch nicht haben, auch wenn die Technologie das Berufsbild verändern werde. „Soziale Kompetenz kann auch die KI nicht ersetzen.“
Dies unterstrich auch der Vorkongresskurs am Freitagnachmittag mit Prof. Dr. Dr. Ralf Smeets. Der stellv. Klinikdirektor und Leiter der Sektion Regenerative Orofaziale Medizin am UKE hinterfragte kritisch: „Gibt es wirklich keine Risikopatienten in der KFO? Müssen wir wirklich nichts beachten?“ Als Mund-Kiefer-Gesichtschirurg warf Prof. Smeets den „Blick von außen“ auf die KFO – und plädierte für eine stringente interdisziplinäre Kommunikation.
Zum Kongress selbst gab sich das Who is Who der KFO-Referentinnen und -referenten die Klinke in die Hand: Los ging es mit Dr. Andrea Foltin aus Wien, die unter dem Titel „You can WIN if you want“ die Vorzüge der Lingualtechnik in der und für die Praxis herausstellte. Sie startete mit der provokanten Frage „Brauchen wir heute eigentlich noch Brackets – angesichts der allgegenwärtigen Alignerbehandlungen?“ und beantwortete diese mit einem klaren JA. In einer – nicht repräsentativen, aber doch spannenden – Umfrage gab lediglich ein Prozent der Behandler an, ausschließlich mit Alignern zu arbeiten. „Für 99 Prozent der Kolleginnen und Kollegen sind Brackets also relevant.“ Gleichzeitig steige jedoch die Nachfrage nach ästhetischen Möglichkeiten der Zahnkorrektur, und hier lande man bei der Lingualtechnik. Dr. Foltin stellte die Vorteile der Lingualbehandlung gegenüber anderen Behandlungsmöglichkeiten dar (bis zu 5 x weniger White Spots als bei herkömmlichen Brackets, ermöglicht eine sehr präzise Fehlstellungskorrektur). Häufig höre sie von ergonomischen Problemen der Behandler beim Bonding. Ihr Tipp: „Verändern Sie die Liegeposition der Patienten und damit auch Ihre Sitzposition. Kippen Sie den Patienten leicht nach hinten – das ist machbar, für 15 – 20 Minuten. Sie machen das den ganzen Tag.“ Sie empfehle deshalb eine 12-Uhr- anstatt einer 8-Uhr-Position.
Prof. Dr. Dr. Collin Jacobs aus Jena betrachtete die „Kieferorthopädie auf dem interdisziplinären Spielfeld der digitalen Zahnmedizin“ und brach eine Lanze für die „Individuelle Kieferorthopädie“. Es sei gerade das umfassende Wissen um die Funktion, das die Kieferorthopädinnen und Kieferorthopäden auszeichne. Das „und die Empathie für unsere Patienten – das wird keine KI ersetzen.“ Der interdisziplinäre Behandlungsansatz nutze unterschiedliche Denkansätze verschiedener Fachrichtungen und führe zu individuellen Lösungen. Im Fokus hierbei stehe stets das Wohl des Patienten – und zwar von der Diagnostik bis zur Retention. Beim Austausch dieser Denkansätze helfe die Digitalisierung ungemein. „Die digitale Planung ermöglicht eine präzise dreidimensionale Positionierung der Kiefer und erleichtert die interdisziplinäre Kommunikation.“
Den digitalen Workflow stellte auch Dr. Oliver Liebl, Wertheim, ins Zentrum seines rasanten Vortrags. Anhand der Analogie zu Apple stellte Dr. Liebl die Einführung der KI in der Kieferorthopädie dar – und die verschiedenen Phasen der „Gefahren für early adopter“, den Spagat zwischen der Angst vor Neuem (Fear of a new) und der Angst, den Anschluss zu verpassen (Fear of missing out). „Wenn Sie sich fragen, wann Sie anfangen wollen zu scannen – JETZT ist der richtige Zeitpunkt.“ In Sachen KI stehe die Kieferorthopädie, aber auch die Gesamtgesellschaft, erst am Anfang, dennoch sei die Angst, die KI würde KFO-Know-How ersetzen, unbegründet. „Auch in Sachen KFO-Behandlung gilt: Wer´s analog nicht kann, wird´s digital auch nicht hinbekommen.“ Digitale Tools könnten in der Praxis weit über die reine Behandlung hinaus Einzug halten und Erleichterung bringen – beispielsweise setze er auf eine „hybride Beratung“: Die persönliche Beratung unterstützt ein Flyer, mit Text und QR-Code, der zu einem Video führt, in dem ein Avatar die Behandlungsmöglichkeit freundlich erläutert (mehrsprachig!) und illustriert. „Die KI spricht die Sprache der Patienten!“. Allerdings gelte hier wie bei allen digitalen Tools in der KFO: „Es wird Ihnen nicht erspart bleiben, selbst nochmal drüber zu gehen, zu kontrollieren und Korrekturen vorzunehmen.“
Wie die digitale Kieferorthopädie sich dann in Euro und Cent niederschlägt, war das Thema von Abrechnungsexpertin Heike Herrmann, Köln. Sie stellte das neue Urteil des Landgericht Stuttgart vom 15. Februar 2023 vor. Demnach sind Attachments analog nach GOZ 6100 sowie die Entfernung analog nach GOZ 6110 abrechenbar. Weiterhin regelt das Urteil GOZ-Positionen wie GOZ 6090 und die Bearbeitung der PC-gestützten Daten nach BEB 0706. Heike Herrmann stellte die wichtigsten Positionen im Alignerplan vor und gab Tipps zur Handhabung. Sie plädierte klar für eine umfassende Dokumentation: „Bitte schreiben Sie so viel Text wie möglich in die digitale Karteikarte – nur so können Sie im Fall von Nachfragen argumentieren.“
Ebenfalls Management, allerdings in Sachen Personal, stand anschließend mit Sylke Bittner auf der Agenda. „Wenn KFO der einfachere Part ist – Personalmanagement im Jahr 2023“, so der vielsagende Titel ihres Vortrags, der sich allem voran mit moderner Führung beschäftigte. „Ja, die Generationen haben sich verändert, die Menschen haben ich verändert. Das bedeutet: WIR müssen unsere Einstellung verändern.“ Junge Menschen der Generation Z seien einer Erhebung zufolge „die illoyalsten Jobber aller Zeiten.“ Sie seien technologieaffin, umwelt- und selbstbewusst, nachhaltig – aber eben auch wählerisch, fordernd und mit hohen Ansprüchen unterwegs. „Wir können das gut oder schlecht finden – wir werden uns nur darauf einstellen müssen.“ Recruting funktioniere heute völlig anders als noch vor fünf Jahren. „Wir schalten Stellenanzeigen heute ausschließlich auf den Sozialen Medien.“ Da sei es allerdings nicht mit einem Post getan – die Reaktionszeit auf mögliche Rückfragen und/oder Bewerber sei entscheidend. „Die Bewerber erwarten heute eine schnelle Rückmeldung, ein nachhaltiges Pre-Boarding, unbefristete Arbeitsverträge mit flexiblen Arbeitszeiten, übertarifliche Leistungen bei Urlaub und Gehalt, Weiterentwicklungsmöglichkeiten und Digitalität.“ Darüber hinaus gab Sylke Bittner Tipps für den „richtigen“ Umgang mit Schwangerschaften („Freuen Sie sich!“), für eine niedrige Fluktuation (von Aufmerksamkeit bis zur strikten Teamhygiene) bis hin zur wertschätzenden Reaktion auf eine Kündigung (vom Gegenangebot bis zur Freistellung). Sylke Bittner Vortrag traf spürbar den Nerv der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, konnte sich jede/r Praxisinhaber/in doch in diese Situationen hineinversetzen.
Eine echte Innovation konnte Gastgeber und ABZ-Geschäftsführer Tassilo Richter seinen Gästen mit dem „Factoring-Navigator“ präsentieren: Eine Schnittstelle vom ABZ-Factoring zu Ivoris, der führenden Praxismanagement-Software, die ganz aktuell fertig gestellt wurde. Was die Praxen davon haben? „Ein besseres Zahlungsmanagement und ein schnellerer Zugriff auf alle benötigten Dokumente ermöglichen eine problemlosere, flexible und maximal effiziente Abrechnung.“ Kurz gesagt: eine umfassende Lösung für optimales Patientenmanagement. So habe das Kieferorthopädische Kompetenzzentrum der ABZ-ZR seinen Anspruch als ganzheitlicher Praxispartner verstanden und erneut klar unterstrichen.
Zurück zum Fachlichen brachte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Dr. Peter Göllner aus Bern. „Die Abrasionstheorie – Ein Erklärungsversuch für orthodontische Probleme“ war sein Beitrag überschrieben, der sich der ganzheitlichen Betrachtung des Patienten widmete. Bruxismus sei ein Teil der Evolution – schließlich hätten sich frühzeitliche Menschen „echt bio“ ernährt, Sand und Schleifteilchen inklusive. „Das schleift die Zähne natürlich ein.“ Überhaupt nahm die Biologie viel Raum in Dr. Göllners Vortrag ein, beispielsweise die Gesichts- und Schädelentwicklung. Die Zunge forme den Gaumen, die offene Mundatmung und daraus resultierende falsche Zungenlage führe zu einem zu schmalen Gaumen. „Form follows function – und die gesamte Energie geht fürs Atmen drauf.“ Den Grundsatz „Form follows gravity“ zugrunde legend, plädierte Dr. Göllner beim Frontzahntrauma immer für die kieferorthopädischen Lückenschluss. „Vitale Zähne folgen im Laufe der Jahre und Jahrzehnte der Graviation/Schwerkraft – das kann ein Implantat nicht.“ Der KFO-Lückenschluss sei deshalb als natürlichere Lösung der Lückenversorgung durch ein Implantat vorzuziehen.
Dem Kiefergelenk, genauer, der „Implementierung individueller Kiefergelenksdaten in die virtuelle Kieferorthopädie“ widmete sich im Anschluss Dr. Werner Schupp, Köln. Klar im Fokus einer jeden kieferorthopädischen Behandlung stehe die Funktion. „Ich liebe ein schönes Lächeln. Für mich ist das jedoch ein Give-away einer erfolgreichen kieferorthopädischen Behandlung.“ Mit welcher Behandlungsmethode dieser Erfolg erreicht werde, sei dabei nicht relevant. „Wir haben im Laufe der Zeit mit verschiedenen Systemen behandelt, und sie alle haben ihre Berechtigung.“ Ausführlich ging er auf Kiefergelenksprobleme und deren Ursachen ein – meistens sei dies eine pathologische Gelenkposition, bei der der Gelenkraum irgendwo in der HIKP eingeengt sei. „Jedes Gelenkproblem ist IMMER auch ein Raumproblem: In einem gesunden Kiefergelenk verfügt der Kondylus über eine definierte und ausreichende Bewegungsfähigkeit in allen Ebenen.“ Er erläuterte seine „Überlegungen zur digitalen Gelenkaufzeichnung“ und beschrieb dezidiert den Behandlungsablauf mit In-House produzierten Alignern mit integriertem virtuellen Artikulator. „Erst wenn die Okklusion mit der physiologischen Kondylenposition übereinstimmt, können wir von einer erfolgreichen KFO-Behandlung sprechen.“
Die Grenzen der Aligner Orthodontie zeigte Dr. Jörg Schwarze, ebenfalls aus Köln, auf – und wie sich diese im Lauf der letzten fünfzehn Jahre verschoben haben. So publizierten Lagravére und Flores-Mir 2005 im J Am Dent Assoc.: „Behandler, die die Clear Aligner Technique (CAT) bei ihren Pateienten einsetzen möchten, müssen sich auf ihre klinische Erfahrung, die Meinung von Experten und eingeschränkte publizierte Evidenz verlassen.“ Noch 2012 attestierte eine Studie, körperliche Zahnbewegungen seien mittels der CAT nicht möglich. Hier sei man heute deutlich weiter. Dr. Schwarze kategorisierte die Einsatzmöglichkeiten der Alignerbehandlung anhand eines einfachen Schemas – von Grün (OK-Inzisiven-Rotation, Kontrollierte Kippung) über Gelb (Inzisiven-Intrusion, UK-Inzisiven-Rotation, Torque, UK-Prämolaren-Rotation) bis hin zu Rot (Absolute Extrusion, Translation, Root Tip). „Seien wir ehrlich – 95 Prozent der Praxisfälle lassen sich in der grünen oder gelben Gruppe einordnen.“ Hierfür sei die Behandlung mit Alignern bestens geeignet – für die rote Gruppe jedoch seien „Aligner einfach auch nicht gemacht.“ Was alles möglich ist, zeigte Dr. Schwarze anhand zahlreicher klinischer Fälle – auch körperliche Bewegungen von Zähnen. Sein Tipp: „Gehen Sie da im Staging deutlich runter!“ Wie dies in der Praxis funktioniert, erläuterte Dr. Schwarze anhand zahlreicher Patientenbeispiele. Sein Fazit: „Durch verbesserte klinische Erfahrung und Weiterentwicklung der CAT einschließlich der digitalen Workflows ist die Technik heute für nahezu alle Indikationen einsetzbar.“ Dr. Schwarze schloss mit dem Appell: „Die Beseitigung der Limitationen für körperliche Bewegungen sollte vorrangiges Ziel der Wissenschaft sein.
Den letzten Vortrag des Tages hielt Wilma Mildner, Ubstadt-Weiher, über „Stabiles und Flexibles in turbulenten Zeiten in der Kieferorthopädie.“ Was womöglich fachlich anmutete, stellte unternehmerischen Aspekte in der KFO-Praxis in den Fokus. Eine klare Zielsetzung garantiere den Praxiserfolg wie kaum ein anderer Faktor. „Geben Sie sich Zeit und Raum, diese Ziele auszuarbeiten und schriftlich zu fixieren – am besten losgelöst vom Praxisalltag.“ Wichtig sei, diese regelmäßig zu hinterfragen,, möglicherweise neu zu justieren. Das gelte auch für das eigene Mindset – und die eigenen Ressourcen. „Zufriedene Chefs sind essenziell für die Praxis – und auch für das Team unheimlich wichtig.“ Apropos Team: Auch Wilma Mildner attestierte, dass Führung im Jahr 2023 noch unbedingt leichter ist als noch vor wenigen Jahren. Doch Jammern würde hier nichts nützen. „Was hilft: Schenken Sie dem Team mehr Aufmerksamkeit.“ Bei einer gemeinsamen Tasse Kaffee das Stimmungsbild abzuholen, koste fünf Minuten, bringt oftmals aber erstaunliche Einblicke.
Nach so viel Input, den die Teilnehmer begierig aufsogen, lud der Tegernsee bei strahlendem Wetter zum Durchatmen, Erholen und vielleicht auch zum Reflektieren des einen oder anderen Denkanstoßes ein, bevor der „Bayerische Abend der ABZ“ startete. Ein vorzügliches Menü und Stimmungsmusik gaben den Rahmen für einen unvergesslichen Abschluss dieses Kongresses. Sicher dürfte sein: Wer SEA LOVE KFO 2023 erlebt hat, wird sich SEA LOVE KFO 2024 definitiv nicht entgehen lassen!