Von der Inter- zur Transdisziplinarität

Prof. Dr. Wibke Bein-Wierzbinski wurde kürzlich zur Professorin für Medizinpädagogik an der FOM (FOM Hochschule Hochschulzentrum Hamburg) berufen. Womit genau sie sich beschäftigt, welche Möglichkeiten das Entwicklungs- und Lerntherapiekonzept PäPKi bietet – darüber sprach sie mit unserer Redaktion.

Prof. Dr. Wibke Bein-Wierzbinski

studierte Lehramt an der Universität Hamburg, 2004 promovierte sie zur Dr. phil. – ebenfalls an der Universität Hamburg – zum Thema „Räumlich-konstruktive Störung bei Grundschulkindern“.

Während ihrer Promotion war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Erziehungswissenschaft, Diagnostik und Förderung von Kindern mit Lernbeeinträchtigung tätig. Seit 1997 ist Prof. Dr. Bein-Wierzbinski mit einer Pädagogischen Praxis für Kindesentwicklung (PäPKi®) selbstständig: Der Fokus ihrer Arbeit liegt dabei auf der Diagnostik und Förderung bei Entwicklungs- und Lernauffälligkeiten, der Ursachenforschung von Entwicklungs- und Lernstörungen sowie sekundären Kompensationsmustern im Erwachsenenalter. Praktische Lehrerfahrungen sammelte die Expertin für Medizinpädagogik beispielsweise an der Diploma Hochschule und als Dozentin in Weiterbildungs- und Ausbildungslehrgängen.

An der Hamburger FOM ist sie seit 2020 im Einsatz, unter anderem für die Module „Psychosomatische Erkrankungen“. Des Weiteren erarbeitet sie in Theorie und Praxis das ernährungsphysiologische Konzept der Bedarfsorientierten Ernährung und der zielgerichteten Bewegungsförderung.

Liebe Frau Professor Bein-Wierzbinski, herzlichen Glückwunsch zur Berufung zur Professorin für Medizinpädagogik an der FOM Hamburg! Interdisziplinäres Denken und Handeln stand und steht im Mittelpunkt Ihres Schaffens. Wie sehen Sie die Entwicklung der Interdisziplinarität in der Zahnmedizin – bis heute und in Zukunft?

Eine der größten Herausforderungen wird in den kommenden Jahrzehnten die Erarbeitung von gesunderhaltenden Präventionsmaßnahmen sein. Die Zahnmedizin hat sich schon erfolgreich in der Kariesprophylaxe hervorgetan. Im Bereich der Kieferorthopädie bleibt trotz der großen Wissensfortschritte, die zweifelsfrei schon erzielt wurden, die Behandlung meist doch symptomatisch. Ein interdisziplinär fundierter Behandlungsplan mit Berücksichtigung der Erkenntnisse aus der Entwicklungsphysiologie, der Logopädie und der Physiotherapie sind eher noch Zukunftsmusik. Wenn wir bedenken, dass eine moderne Kieferorthopädie zum Ziel hat, eine morphologisch stabile Okklusion im Einklang mit der Gesichtsästhetik und der funktionellen Anpassung zu schaffen, ist es erstaunlich, entwicklungsphysiologische Aspekte aus der frühkindlichen orofazialen Entwicklung nicht einzubeziehen – weder als frühkindliche Präventionsmaßnahme in Zusammenarbeit mit Pädiatern und Manualmedizinern noch in der Behandlungsplanung mit dem Wissen aus Entwicklungstherapie, Osteopathie und Logopädie.

Sie sind maßgeblich an der Entwicklung des Entwicklungs- und Lerntherapiekonzepts nach PäPKi® beteiligt. PäPKi steht für ein ganzheitliches Förderkonzept, bei dem die Tätigkeitsfelder von Pädagogen und Medizinern näher zusammenrücken, um eine bestmögliche Förderung des Kindes zu bewirken. Können Sie kurz ausführen, was PäPKi® ist – mit Fokus auf Störungsbilder im orofazialen System?

PäPKi® ist ein neurophysiologischer Behandlungsansatz, der explizit den neuromotorischen Aufrichtungsprozess und die damit verbundenen funktionellen Entwicklungsschritte berücksichtigt.
Ich möchte dies einmal an einem Beispiel für die Entwicklung der Kiefer- und Zahnstellung verdeutlichen: Schon mit den ersten Saugbewegungen entsteht eine frühkindliche Funktionseinheit von Zunge, Unterlippe und Schlund, die lediglich sagittale Bewegungen zeigt und bis zur ersten Dentition bestehen bleibt. Dann jedoch mit dem Hochstützen in Bauchlage auf Ellbogen und schließlich auf die Handteller kommt es zu einem sehr wichtigen Entwicklungsschritt für die nachfolgende Kieferentwicklung und Zungenmotorik: Die frühkindliche Funktionseinheit im orofazialen System löst sich auf, indem sich die Zunge an den Gaumen orientiert. Gleichzeitig wird in Ruhestellung die Zungenspitze im Bereich der Papilla incisiva mit moderatem Druck platziert. Neben der wachstumsbedingen intraoralen Raumgewinnung kann nun auch der Unterkiefer freischwebend feinmotorische Bewegungen ausführen und okklusale Anpassungsentwicklungen sind zu beobachten.

Bei diesem Entwicklungsschritt „ankert“ die Zunge den Tonus des orofazialen Systems mit Auswirkungen auf Zwerchfellfunktion bzw. Atmung, Rumpfstabilität einschließlich Beckenboden und Beckenbeweglichkeit. Für diesen wichtigen Entwicklungsschritt verwende ich in meinen Vorlesungen gerne den Begriff des „Ankerns“ – gleichgesetzt mit einem Meilenstein für die Kieferentwicklung – da von der Platzierung der Zungenspitze die Körperhaltung und einhergehend die okklusalen, funktionellen und gesichtsästhetischen Reifeschritte maßgeblich beeinflusst werden. Bleibt das Setzen des Ankers aus, kompensiert das betroffene Kind die fehlende Stabilität mit einer veränderten neuromotorischen Aufrichtungsstrategie, bei der es zu einer Reklination und Translation des Kopfes nach ventral kommt sowie zur Protraktion des Schultergürtels, einer Thoraxsenkung mit Sitzkyphose, Beckenunreife und einer Adduktion und Innenrotation der Hüftgelenke.

Ausgehend also von der Zunge mit Auswirkungen auf das gesamte System, also den ganzen Körper?

Richtig – und darüber hinaus. Wir sehen ein Kind vor uns, das wenig aufgerichtet ist und zudem einen inkompetenten Mundschluss aufweist, mit eingeschränkter Gesichtsmimik bei gebeugter, in sich zusammengesackter Körperhaltung. Die Atmung ist flach, die Antriebslosigkeit kaum zu übersehen. Sie können sich vorstellen, dass die zu geringe Körperspannung samt der sich ergebenen Reduzierung der Atmung auch die Lebendigkeit einschränkt. Diese funktionellen Entwicklungsdefizite sind nun nicht nur für die Zahnheilkunde und Kieferorthopädie interessant, sondern auch für die Orthopädie, Schlafmedizin, Pädiatrie sowie für die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Spannend hierzu sind auch die Untersuchungen, die wir in Zusammenarbeit mit der Internationalen PäPKi®-Gesellschaft e.V. zur Sprech- und Mundmotorik sowie zum Facial Feedback durchführen. Erste Ergebnisse zeigen deutlich eingeschränkte Empfindungen von lustigen Inhalten bei myofunktionell auffälligen Kindern im Gegensatz zu Kindern ohne fehlenden Mundschluss. Kinder mit einer gestörten Ruheweichteilbeziehung wirken nicht nur weniger interessiert und erfreut beim Betrachten von lustigen Inhalten, sondern scheinen es auch zu sein.

Bei PäPKi wird genau auf diese Zusammenhänge geachtet: Als Entwicklungs- und Lerntherapeuten setzen wir mit gymnastischen Übungen an den einzelnen Entwicklungsschritten während des Aufrichtungsprozesses an und unterstützen somit die Behandlungsmöglichkeiten in ganz unterschiedlichen Disziplinen. Wir unterstützen junge Eltern, wenn Regulations- und Bindungsstörungen und eine Säugschwäche zu beobachten sind. Im Kleinkindalter stehen Habits, ein lutschoffener Biss und Artikulationsstörungen bei häufig unrunden Bewegungsabläufen im Mittelpunkt. Und bei Schulkindern schließlich wird das Vorhandensein eines Kreuz‑, Vor- oder Rückbisses, sowie Zähneknirschen und -pressen, myofunktionelle Störungen, Abweichungen der Zungenruhelage sowie Kiefer- oder Kopfschmerzen mitbehandelt – und das immer in Verbindung mit der Behandlung der vorhandenen Haltungs- und Koordinationsstörungen. Die hier aufgeführten symptomatischen Auffälligkeiten sind wie kleine Puzzleteile, die wie auch Migräne bei Kindern bereits Prädiktoren einer juvenilen kraniomandibulären Dysfunktion (CMD) sein können.

Sie sitzen im Beirat des CMD-Dachverbandes – einem interdisziplinär angelegten Netzwerk für Fach-/Zahnärzte, Physiotherapeuten und weitere mit der CMD befasste Disziplinen. Wie gut funktioniert eine aufeinander abgestimmte Behandlung der CMD schon jetzt, wo sehen Sie Potenzial und – was würden Sie sich wünschen?

In CMD- Dachverband e.V. haben sich Experten zusammengeschlossen, die die Notwendigkeit einer interdisziplinär ausgerichteten CMD-Behandlung erkannt haben und mögliche Behandlungswege befürworten. In Form von Weiterbildungen und wiederkehrenden Regionalgruppentreffen entsteht ein wunderbarer Austausch zwischen den unterschiedlichen Fachexperten. Hierbei wird nicht nur an der Interdisziplinarität, sondern auch an der Transdisziplinarität gearbeitet. Die Sicht- und Vorgehensweise anderer therapeutischer Ansätze zu verstehen, ist eine gute Voraussetzung, Patienten mit CMD auf den richtigen Behandlungsweg zu bringen.

Und wenn Sie mich fragen, was ich mir wünsche – flächendeckende transdiziplinäre Arbeitsgruppen, um das moderne Wissen möglicher Behandlungswege dem Patienten deutlich direkter zukommen zu lassen.
Herzlichen Dank, liebe Frau Professor Bein-Wierzbinski, für dieses freundliche und spannende Gespräch!


 

Bildquelle:  Prof. Dr. Wibke Bein-Wierzbinski