Weil Zahnärzte Hygiene können

(veröffentlicht in Ausgabe 4/2021)

Gerade zu Beginn der Pandemie stand das öffentliche Leben still – in den allermeisten Ländern galt das auch für kieferorthopädischen Praxen. In Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde das Thema Praxisschließung unterschiedlich gehandhabt. Wir haben bei den Berufsverbände in den Ländern gefragt – wie die Entscheidungen getroffen und gelebt wurden, und ob sie retrospektiv richtig waren.

Dr. Silvia M. Silli, Präsidentin VÖK:
„Anfang März 2020 hatten wir noch die Jahrestagung der Kieferorthopäden in Kitzbühel. Da fing das mit Corona gerade an, ernst zu werden. Die Lage hat sich dermaßen schnell zugespitzt, dass der Kongress am Dienstag abgebrochen wurde. Am Freitag um Mitternacht wurde Tirol dann sogar komplett abgesperrt. … Zurück in Wien stellte sich uns die Frage, wie wir weiter vorgehen sollten. Wir kamen gerade aus einem Risikogebiet und hatten am Kongress teilgenommen. Von der Wiener Zahnärztekammer kam überhaupt keine Info. Abolutes Stillschweigen. Ich kontaktierte einen guten Freund in Parma, dort war die Situation zu der Zeit schon dramatisch. Er bestätigte mir den Ernst der Lage. Daraufhin entschied ich mich dazu, den VÖK Mitgliedern zu empfehlen, ihre Praxen zu schließen. Die meisten hatten vorher an dem Kongress teilgenommen. Wir wollten kein Risiko für unsere Patienten und Mitarbeiter eingehen. Konkret lautete die Empfehlung, die Praxen so lange zu schließen, bis die Schulen wieder öffnen. Natürlich war eine Versorgung für Notfälle gesichert und wir waren für unsere Patienten immer erreichbar. Die meisten Mitglieder sind der Empfehlung gefolgt. Einige wenige hatten ihre Praxen offen. Von Seiten der Politik kam nie die Anweisung, die Praxen zu schließen. Insgesamt hatten wir die Praxis sechs Wochen zu, parallel zu den Schulen. Unser Hauptklientel sind nun mal Kinder und Jugendliche, deshalb hat das für uns Sinn gemacht und uns etwas Zeit gegeben, die Praxis an die neuen Anforderungen anzupassen. Wobei man sagen muss, dass wir in den Praxen schon vor Corona ein striktes Hygienekonzept verfolgten. Es gibt schließlich auch noch viele andere Krankheiten. Mich persönlich hat diese Zeit sehr daran erinnert, als die ersten HIV-Infektionen auftraten. Zu Beginn herrschte da auch eine große Verunsicherung, weil die Übertragungswege und das Ansteckungspotential noch nicht geklärt waren.

Nach den sechs Wochen hatte sich Ende April auch die anfangs sehr chaotische Situation mit der Schutzausrüstung etwas normalisiert. Die meisten unserer Patienten waren sehr verständnisvoll. Es gab dann zwar immer wieder kleinere organisatorische Probleme. Zum Beispiel waren Zahnärzte zunächst nicht einmal berechtigt, Tests bei ihren Mitarbeitern bzw. sich selbst durchzuführen und wurden auch beim Start der ersten Impfaktion für Ärzte nicht mitberücksichtigt. Aber diese Obskuritäten konnten schnell aus dem Weg geräumt werden. Mittlerweile sind auch die meisten Zahnärzte und Zahnärztinnen das dritte Mal geimpft.

Die Untätigkeit der Wiener Zahnärztekammer hat mich wirklich erschüttert. Die Verantwortlichen spielten die Situation am Anfang sogar herunter, nach dem Motto: In drei Wochen ist alles wieder vorbei. Die Quittung für dieses Verhalten kam bei den Kammerwahlen im Juni 2021. Die Verantwortlichen, die teilweise seit Jahrzehnten an der Spitze der Kammer saßen, wurden abgewählt. Eine kleine Revolution. Die alte Kammerführung hatte die Devise: Abwarten und Tee trinken. Die neue Kammer befasst sich mit vielen Themen, die lange auf Eis lagen oder bewusst verzögert wurden, beispielsweise mit neuen Zusammenarbeitsformen, mit der Fachausbildung KFO und der Tatsache, dass die Zahnmedizin immer weiblicher geworden ist.“

Marco Tackenberg, Presse- und Informationsdienst SSO
Schweizerische Zahnärzte-Gesellschaft:
„Die Anordnung des Bundesrats vom 16. März 2020 legte fest, dass Gesundheitseinrichtungen wie Spitäler, Kliniken, Arztpraxen und Zahnarztpraxen keine nicht dringenden Eingriffe und Behandlungen mehr durchführen durften. Die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Anordnung auf Zahnarztpraxen waren einschneidend bis existenzgefährdend. Viele SSO Mitglieder waren verunsichert – auch wegen der Ungewissheit, wie lange dieser Zustand anhalten würde. Für den SSO-Zentralvorstand war es in jenen Tagen ein prioritäres Anliegen, den Behörden aufzuzeigen, wie Behandlungen in der Zahnarztpraxis baldmöglichst wieder aufgenommen werden können.

Der SSO-Präsident Jean-Philippe Haesler bat die Bundesbehörden dringend darum, unseren Berufsverband bei Formulierung einer Strategie zur Normalisierung des Praxisalltags einzubeziehen.
Zusammen mit der Vereinigung der Kantonszahnärztinnen und Kantonszahnärzte der Schweiz VKZS zeigte die SSO dann konkret auf, mit welchen Maßnahmen Behandlungen in der Zahnarztpraxis ab dem 20. April 2020 wieder möglich sein konnten. Dazu gehört die strenge Anwendung der Praxishygiene. Bei allem hat der Schutz von Patientinnen, Patienten und des Praxisteams vor Infektionen im Rahmen der zahnärztlichen Behandlung höchste Priorität. Zahnarztpraxen/Kieferorthopädiepraxen waren ab dem 27. April 2020 wieder für Patienten geöffnet.

RA Stephan Gierthmühlen, Geschäftsführer des Berufsverbands
der Deutschen Kieferorthopäden / BDK e.V.
„Das Risiko für Zahnärzte ist sehr hoch – ohne jeden Sinn!“ Mit diesen Worten forderte ein Hamburger Zahnarzt in den Medien eine behördlich angeordnete Schließung der Zahnarztpraxen. Nur noch Notfallbehandlungen sollten möglich sein.

Der BDK ging in der Pandemie schon früh einen anderen Weg. Für uns war klar, dass die Kieferorthopäden sich ihrer Verantwortung für die kontinuierliche Versorgung ihrer Patienten nicht entziehen konnten. Bei laufenden Behandlungen ist die regelmäßige Behandlungskontrolle – die gemeinsame Erklärung der europäischen Kieferorthopäden zur Fernbehandlung hat es jüngst klargestellt – unverzichtbar. Wenn man das „Große M“ in ZahnMedizin ernst nimmt, gilt auch für uns: Wer Angst vor kranken Menschen hat, hat seinen Beruf verfehlt. Die geringe Zahl von Ansteckungen in Zahnarztpraxen belegen, dass mit den richtigen Maßnahmen die Versorgung ohne signifikanten Einfluss auf das Infektionsgeschehen aufrecht erhalten bleiben konnte und kann.

Die Entscheidung für geöffnete Praxen bei einer engmaschigen, intensiven Information der Mitglieder von Aerosolforschung und Luftreinigungsanlagen bis zum Kurzarbeitergeld hat sich auch in der Rückschau als richtig erwiesen.“


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