Wie Hormone & Co auf den Knochenstoffwechsel wirken

Einflüsse kennen, gezielt fragen, KFO-Therapie anpassen – Expertin empfiehlt Erweiterung und regelmäßige Erhebung der Anamnese

Dr. Aneta Pecanov-Schröder, Bonn & Kathrin Schuldt, Hamburg

Sie unterliegen leider nicht nur den gewünschten Einflüssen: Patienten unter Dauermedikation bei Grunderkrankungen (auch Kinder!), Menschen in Phasen hormoneller Umstellung wie in Pubertät und Menopause oder unter der Einnahme von Pharmaka oder Hormonen, u.a. bei Schilddrüsenstörungen, Testosteronsupplementierung, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese körperfremden und körpereigenen Stoffe haben auch Auswirkung auf den Knochenstoffwechsel – und damit auf die kieferorthopädische Therapie. „Viele Kollegen sind sich dessen
gar nicht bewusst“, weiß die erfahrene Kieferorthopädin, Dozentin und Wissenschaftlerin der Universität Rostock Prof. Dr. med. dent. Franka Stahl und möchte für das Thema sensibilisieren. „Nur mit dem nötigen Wissen können Behandler mit einer angepassten Therapie reagieren“ – und Patienten viel Leid ersparen. Vor einigen Jahren selbst zufällig auf diese für die Praxis relevanten Zusammenhänge gestoßen, nahm sich Prof. Stahl der Thematik an und entwickelte gemeinsam mit ihrem Team erweiterte Anamnesebögen für Kinder und Erwachsene.

„Es begann mit der Übernahme eines schwierigen Patientenfalles, bei dem bisher alle kieferorthopädischen Maßnahmen zum Schließen eines offenen Bisses erfolglos geblieben waren“, so Prof. Dr. Franka Stahl. „Im Zuge der Ursachensuche, warum sich die Zähne einfach nicht bewegen ließen, stellte sich heraus, dass die Patientin mit Osteogenesis imperfecta seit mehr als sechs Monaten auf Bisphosphonate i. V. eingestellt worden war. Danach fing ich an, mich mit den Folgen von Medikamenten auf die kieferorthopädische Zahnbewegung zu beschäftigen.“ Da die Knochenresorption bei diesen Patienten unterbrochen ist, können sich kieferorthopädische Zahnbewegungen bei ihnen nicht nur verlangsamen, sondern auch vollständig zum
Erliegen kommen: „Die Zähne sind unter diesen Umständen wie einzementiert“, klärt Prof. Stahl auf und betont: „Mit diesem Wissen hätte man der Patientin den langwierigen orthodontischen Einordnungsversuch ihrer Zähne ersparen können und andere Behandlungsoptionen ins Visier nehmen können.“

Die (regelmäßige) Anamnese ist essenziell

Mittlerweile belegen mehr wissenschaftliche Studien die Effekte von pharmakologischen Substanzen, Medikamenten oder auch körpereigenen Stoffen wie Hormone auf den Knochenstoffwechsel – „nur sind sie bisher den wenigsten in der täglichen Praxis oder in der Lehre präsent“, sagt Prof. Stahl. Daher ihr wohlgemeinter Rat für die kieferorthopädischen Kolleginnen und Kollegen: „Passen Sie Ihren Anamnesebogen entsprechend an – denn die Anamnese ist das A und O einer jeden Behandlung.“ Dabei lohnt es sich, die Zeit dafür aufzuwenden, so Prof. Stahl.

Oft werde bei einer Nachfrage, ob das Kind eine Erkrankung habe oder eine Erkrankung durchgemacht habe, dies von den Eltern schnell verneint. „Bohrt man dann doch noch etwas weiter nach und fragt gezielt nach Medikamenten, die das Kind regelmäßig einnimmt, wird dies vielfach doch bejaht.“ Um Missverständnissen wie diesen entgegenzuwirken und eine bestmögliche Behandlung anzubieten, ist es laut Prof. Stahl „essenziell“, in der Anamnese nicht nur allgemeine, klinisch bedeutsame oder familiäre Parameter – im Regelfall zahnbezogene Informationen – abzufragen, sondern die Patienten auch gezielt nach systemischen Grunderkrankungen, Dauermedikationen und Supplementierungen zu fragen. „In unseren Anamnesebogen haben wir inzwischen auch Fragen nach bestehenden Grunderkrankungen wie Arthritis, Rheuma, Diabetes, Schuppenflechte, Glaukom oder Osteoporose aufgenommen. Auch die Einnahme entsprechender Medikamente wie Bisphosphonate (z.B. bei Tumorerkrankungen, Osteoporose verordnet) klopfen wir ab, ebenso ob eine Insulinsupplementierung (bei Diabetikern, darunter auch immer häufiger Kinder), Vitamin-D3-Einnahme, regelmäßiger Schmerzmittelkonsum, die Einnahme von Schilddrüsenhormonen oder Hormonpräparaten wie Kontrazeptiva vorliegt…“

Die Abbildungen 1 und 2 (S. 17) zeigen Ausschnitte aus den aktuellen Anamnesebögen von Kindern und Erwachsenen, den die Behandler in der kieferorthopädischen Sprechstunde der Universitätsmedizin Rostock vor Beginn jeder Therapie standardmäßig erheben. „Nach zwei Jahren sollten die Anamnesebögen der Patienten aktualisiert werden“, so die Rostocker Expertin.

Manche Substanzen beschleunigen, andere bremsen die Zahnbewegung

„Interessant ist vor allem die Einnahme pharmakologischer Substanzen, Medikamente oder Hormone über einen längeren Zeitraum“, erklärtProf. Stahl, „denn dann ist ein Einfluss auf den Knochenstoffwechsel wahrscheinlich. Besonderes Augenmerk gilt in der Gruppe der Erwachsenen den Rheumatikern, Patienten mit Autoimmunerkrankungen, Allergikern, Krebspatienten oder Diabetikern. Bei Kindern kommt Diabetes mellitus und Rheuma ebenfalls häufig vor, manche
Kinder nehmen aber auch Vitamin D3 oder Wachstumshormone ein, was in Bezug auf die anstehende Therapie ebenso Beachtung finden sollte.“

Dabei unterdrücken Substanzen wie Bisphosphonate, Kontrazeptiva, Östrogene, Testosteron, nicht steroidale Antirheumatika wie Acetylsalizylsäure und Ibuprofen, Insulin, Calcitonin oder Fluoride die Knochenresorption mit der Folge, dass die angestrebte Zahnbewegung gehemmt wird und deshalb langsamer verläuft. Andere Stoffe wie Kortikosteroide, Cortisol, Schilddrüsenhormone, Vitamin D3, das Parathormon oder Eicosanoide befördern die Knochenresorption und beschleunigen damit die Zahnbewegung. [1] „In diesem Fall bleibt das Behandlungsergebnis nach der Therapie länger instabil und die Retentionsphase sollte verlängert werden“, weiß Prof. Stahl aus Erfahrung.

Knochenstoffwechsel und Hormone
Das gesamte Leben lang beeinflussen verschiedene Hormone wie Somatotropin, Östrogen, Parathormon, Calcitonin oder Leptin den Knochenstoffwechsel – und nicht nur in Wachstums- (Pubertät) und Hormonmangelphasen (z.B. Wechseljahre der Frau, Östrogenmangel durch längere Zyklusstörungen). Zeigt sich z.B. die Knochendichte vermindert, sollten demnach auch Veränderungen im Hormonhaushalt in den Fokus der Betrachtung rücken, vor allem bei bestehenden Medikationen.

Normalerweise ist der Ab- und Aufbau der Knochensubstanz im Erwachsenenalter ausgeglichen – insofern die Zufuhr von Nährstoffen und das Körpergewicht stabil sind (Vorsicht bei Untergewicht junger Frauen). Mit zunehmendem Alter jedoch überwiegt der Knochenabbau, der vor allem bei Frauen in der Menopause zu beobachten ist. In dieser Zeit reduziert sich bei ihnen im Schnitt die Knochendichte, z.B. der Lendenwirbel, um 2,5 Prozent. Dabei korreliert der Einfluss auf die Knochendichte mit dem Ausmaß der hormonellen Schwankungen. Insgesamt erkranken 40 Prozent aller postmenopausalen Frauen im Laufe ihres Lebens an Osteoporose. [3] Betroffene erhalten neben Kalzium und Vitamin D häufig Medikamente
wie Bisphosphonate, Raloxifen, Strontiumsalz oder das Parathormon, um dem Knochenabbau entgegenzuwirken (s. Anamnesebogen). [1]

Aber auch Männer ab etwa 55 Jahren sind von vermehrtem Knochenabbau betroffen. Als Gründe dafür sind sinkende Sexualsteroidspiegel, altersbedingte Stoffwechselveränderungen und geringere körperliche Aktivität anzuführen. [3]

Das Risiko für Knochenbrüche und Osteoporose steigt aber auch mit der Übersekretion des Parathormons. Nach Diabetes mellitus und Schilddrüsenerkrankungen ist der Primäre Hyperparathyreoidismus die dritthäufigste hormonelle Erkrankung (Prävalenz: 0,2-0,4 Prozent). Frauen sind zwei bis drei Mal häufiger als Männer betroffen. Beim Sekundären Hyperparathyreoidismus handelt es sich um ein Nierenleiden mit der Folge eines pathologischen Knochenumbaus. [3]

Orofaziale Auswirkungen von Hormonsituationen

Hormone haben im Laufe des Lebens auch direkten Einfluss auf den orofazialen Bereich. Forschungen belegen z.B. bei einer Östrogenmangel- Situation nicht nur Auswirkungen auf den Knochenstoffwechsel wie ein erhöhtes Risiko für Osteoporose, sondern auch Zusammenhänge mit Mundtrockenheit, Halitosis, dem Burning- Mouth-Syndrom oder starkem Zungenbrennen sowie dadurch bedingte Reizzustände an Zahnfleisch und Schleimhäuten. [4] Studien konnten in diesem Kontext auch belegen, dass insbesondere bei Frauen orale Erkrankungen wie Parodontitis und Kiefergelenksprobleme häufiger auftreten: So verstärken schwankende Östrogenspiegel im gebärfähigen
Alter Gesichtsschmerzen, hohe Östrogenwerte während der Schwangerschaft fördern Gingivitis, niedrige Spiegel in den Wechseljahren prädisponieren die Kiefergelenkdegeneration und erhöhen den Alveolarknochenverlust. [5,6] Andere Forschungsergebnisse berichten davon, dass temporomandibuläre Störungen bei Frauen mindestens doppelt so häufig wie bei Männern auftreten, was eine Rolle des Östrogens in der Schmerzverarbeitung vermuten lässt. [7]

Aber bereits in der Wachstumsphase nimmt Östrogen eine wichtige Rolle ein, z.B. bei der Entwicklung des Schädels. So konnten Tierversuche zeigen, dass ein Östrogenmangel in der Präpubertät mit Veränderungen der Ober- und Unterkieferlänge und des Kondylenwachstums verbunden ist. [8] Auch Omori AM et al. [9] berichteten von einer unterschiedlichen Kieferentwicklung bei Östrogenmangel im präpubertären Alter im Vergleich zum Wachstum bei ausgeglichenem Spiegel. Generell findet das Wachstum des Kiefers bei Jungen später statt und ist ausgeprägter im Vergleich mit Mädchen. Auch der Zeitpunkt des Durchbruchs und die Reifung der Zähne findet bei Jungen später statt. Das Ansprechen auf verschiedene kieferorthopädische Maßnahmen scheint jedoch bei beiden Geschlechtern ähnlich zu sein. [10] In einem weiteren Punkt unterscheiden sich Mädchen von Jungen: Studien belegen, dass
weibliche Jugendliche die Mundhygiene unter der Therapie mit festsitzenden kieferorthopädischen Apparaturen ernster nehmen als männliche. [11]

Fazit
Die vielfältigen Erkenntnisse zeigen, dass im Rahmen der kieferorthopädischen Behandlung nicht nur zahn- oder gebissbezogene Parameter des Patienten die Therapie bestimmen sollten, sondern auch Aspekte der Medikamenteneinnahme, hormonelle Wirkungen mit Rücksicht auf unterschiedliche Lebens- und Entwicklungsphasen und der Substitution bei Erkrankungen. „Viele Kollegen sind für dieses Thema noch nicht sensibilisiert. Die Praxis hat gezeigt, dass es absolut lohnenswert ist, zu der allgemeinen Anamnese vor Behandlungsbeginn auch eine spezielle Befragung der Patienten zu Grunderkrankungen, medizinischen Risiken oder dauerhaften Medikamenteneinnahmen durchzuführen und diese auch nach zwei Jahren zu erneuern“, rät die erfahrene Kieferorthopädin und Wissenschaftlerin an der Universitätsmedizin Rostock allen kieferorthopädisch praktizierenden Kollegen.

„Denn einige Medikamente, pharmakologische Substanzen und Hormone fördern die Knochenresorption, während andere sie hemmen oder gar unterbinden. Das sollte Beachtung in der gesamten kieferorthopädischen Therapie finden: von der Planung von Kontroll- und Folgeterminen bis hin zur Retention, die sich unter diesen besonderen Umständen mitunter deutlich verlängern kann“, so Prof. Dr. Franka Stahl. Ein Achtungszeichen sollte immer sein, wenn eine kieferorthopädische Bewegung trotz starker Kräfte nicht anschlägt oder bemerkenswert schnell vor sich geht. „Wer bis dahin die spezielle Anamnese noch nicht erhoben hat, sollte es spätestens dann tun.“

 

Anamnesebögen:

Abb. 1_Anamnesebogen-Erwachsene_Copyright (002)

Abb. 2_Anamnesebogen-Kinder_Copyright (002)

 

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Literatur_Wie Hormone & Co sich auf den Knochenstoffwechsel auswirken